Brexit-Deal Osteuropäern droht Kindergeldkürzung

24. Juni 2016, 19:06 Uhr

Hätten die Briten für einen Verbleib in der EU gestimmt, wären osteuropäischen Zuwanderern die sozialen Zuschüsse gekürzt worden. Das sah der im Februar ausgehandelte Brexit-Deal zwischen Großbritannien und der EU vor. Der ist nun vom Tisch. Doch mit einer Regelung liebäugelt auch Berlin - mit der Kürzung des Kindergeldes. Es wäre eine Maßnahme mit Tücken.

Die Psychologin fragte vor Tagen den achtjährigen Stefan Tudor nach seinen drei sehnlichsten Wünschen. Der Junge aus der rumänischen Stadt Pitesti zögerte nicht lange: Die Lehrerin solle ihn nicht ständig kritisieren, er wolle mit seiner Mutter öfter spielen und sein Vater solle endlich wieder aus Deutschland zurückkehren. Beim dritten Wunsch wird die Psychologin wenig ausrichten können. Stefans Vater arbeitet in einer Verzinkerei in Deutschland, um die Familie in Pitesti zu ernähren. An eine Rückkehr denkt Georgica Tudor vorerst nicht.

Daniela Tudor und Sohn Stefan
Daniela Tudor mit ihrem achtjährigen Sohn Stefan. Bildrechte: MDR/Annett Müller

Weil der Familienvater einen festen Wohnsitz in Deutschland und einen Arbeitsvertrag hat, bekommen die Tudors auch das deutsche Kindergeld von der Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit. 190 Euro sind das im Monat - mehr als das Neunfache, was Rumänien an Kindergeld zahlt. In Saus und Braus lebt die Familie damit nicht. Aber die Summe sei "ein Segen", sagt Mutter Daniela Tudor. Sie bezahlt damit die Arztbesuche für ihren Sohn, der an der Hyperaktivitätsstörung ADHS leidet und sie spart monatlich etwas an, "damit er mal einen guten Start ins Leben hat".

Nicht küssen, nicht tadeln

Wie den Tudors geht es in Rumänien Zehntausenden Familien: Weil ein rumänischer Lohn oft nicht einmal für einen bescheidenen Lebensstandard reicht, jobben viele Eltern in Westeuropa. Georgica Tudor arbeitet in Deutschland im Drei-Schicht-System. 1.500 Euro netto verdient er monatlich, mehr als das Dreifache eines rumänischen Netto-Durchschnittslohnes. Er zahlt regulär Steuern und Sozialabgaben in Deutschland - und somit steht ihm auch das deutsche Kindergeld zu. Für den finanziellen Zugewinn nimmt die Familie viele Entbehrungen in Kauf. Die Schuleinführung seines Sohnes hat Georgica Tudor nur auf dem Foto miterlebt. Dem Jungen bei den Hausaufgaben zu helfen, ihn zu küssen, zu hätscheln, zu tadeln - alles nicht möglich. Der Familienvater verpasst die Gegenwart, um für die Zukunft vorzusorgen. "Unser Sohn soll es mal besser haben wir als wir, deshalb bringen wir jetzt so viele Opfer", sagt Ehefrau Daniela.

Liebäugeln mit dem Brexit-Deal

Dass die gesamte Familie nach Deutschland zieht, kam für die Tudors bislang nicht in Frage. Fehlende Deutschkenntnisse halten die Mutter davon ab. Doch Daniela Tudor ist ins Grübeln geraten, seitdem sie aus den Medien erfahren hat, dass die Berliner Regierungskoalition womöglich die Kindergeld-Regelung vom Brexit-Deal übernehmen wird. Konkret heißt das: Stimmen die Briten am 23. Juni für einen Verbleib in der EU, dürfen London aber auch die anderen EU-Länder künftig die Höhe des Kindergeldes für die im Ausland lebenden Kinder an die Lebenshaltungskosten ihrer Herkunftsländer anpassen. Zu dem im Februar ausgehandelten Zugeständnis sagte Kanzlerin Angela Merkel vor Monaten, das könne sie sich auch für Deutschland "sehr gut vorstellen". Auch das SPD-geführte Bundesfamilienministerium signalisierte damals Zustimmung.

Gleiche Rechte, gleiche Pflichten?

Lehrer hilft Schülerin nachmittags bei Hausaufgaben
Die Organisation "Rettet die Kinder" (Salvati copiii) in Pitesti kümmert sich um Nachwuchs, dessen Eltern im Ausland arbeiten. Bildrechte: MDR/Annett Müller

Die Tudors halten die Idee hingegen für eine "Diskriminierung" - und nicht nur sie. In den sozialen Netzwerken schreiben viele Rumänen, sie fühlten sich wie "Europäer zweiter Klasse" und argumentieren: Wer gleiche Pflichten habe, müsse gleiche Rechte bekommen. Beim Zahlen der Steuern würden sie wie Westeuropäer behandelt, gehe es jedoch um soziale Zuwendungen, seien sie auf einmal die Osteuropäer, die man billiger abspeisen wolle. Auch der Bukarester Soziologe Barbu Mateescu warnt vor einer Kindergeldanpassung für EU-Ausländer. Werde sie eingeführt, könnten viele Osteuropäer ihr Vertrauen in den Gleichheitsgrundsatz der EU verlieren. "Und Vertrauen ist für die EU ein kolossales Kapital", sagt Mateescu.

Knapp 99.000 Kindergeldberechtigte im Ausland

Deutschland zahlt den Zuschuss derzeit laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit an knapp 830.000 Kinder von EU-Ausländern. Sie machen rund sechs Prozent aller knapp 14,3 Millionen Kindergeldberechtigten aus. Rechtsgrundlage hierfür ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der 2012 den Gleichheitsgrundsatz für Unionsbürger auch beim deutschen Kindergeld eingefordert hatte. Knapp 99.000 Kindergeldberechtigte leben außerhalb Deutschlands - die meisten davon in Osteuropa: in Polen, Rumänien, Tschechien und Ungarn. Was Deutschland an Kindergeld zahlt, liegt weit über dem Betrag in den osteuropäischen Ländern. Die deutschen Ausgaben für Kinder, die weiter im Ausland leben, belaufen sich derzeit  jährlich rund 225 Millionen Euro.

Bezieher deutschen Kindergeldes im EU-Ausland
Wo die meisten Kindergeldberechtigten noch im Herkunftsland leben. Eine Auswahl der vier Länder, die die Statistik anführen. Stand: Ende 2015. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Lukrativeres Kindergeld im Nachbarland

Der Brexit-Deal zum Kindergeld könnte nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen EU-Hauptstädten auf Zustimmung stoßen. Dann allerdings wären auch deutsche Familien betroffen. Etwa 35.000 Deutsche pendeln täglich zur Arbeit nach Luxemburg. Niemand wirft ihnen dort bisher "Sozialmissbrauch" vor, wenn sie im Großherzogtum das lukrativere Kindergeld einstreichen: Für Familien mit drei Kindern gibt es monatlich über 200 Euro mehr als in Deutschland. Doch die Luxemburger Regierung könnte hier Millionen Euro sparen, sollte sie sich von den Berliner Kürzungsplänen inspiriert fühlen.


Wer zahlt monatlich wie viel Kindergeld? (eine Auswahl)
Land für 1. Kind Besonderheiten
Deutschland 190 Euro  
Großbritannien 104,85 Euro  
Polen 114 Euro wird nur an Eltern mit geringem Einkommen gezahlt
Ungarn 41,58 Euro  
Rumänien 18,60 Euro  
Tschechien 18,50 Euro wird nur an Eltern mit geringem Einkommen gezahlt
    Beträge nach aktuellem Währungskurs von Mitte Juni 2016 umgerechnet.

CDU und CSU sprechen von "Kindergeldtransfer"

Die 38-jährige Daniela Tudor im rumänischen Pitesti hofft, dass Kanzlerin Merkel bei der Kindergeldanpassung "noch einmal in sich geht". Schwer zu glauben, dass die CDU-Chefin umschwenkt. Nicht erst seit dem Brexit-Deal, sondern seit Jahren drängen ihre Partei und die Schwesterpartei CSU darauf, dass der "Kindergeldtransfer ins Ausland" ein Ende haben müsse. Der Bukarester Soziologe Barbu Mateescu bezweifelt, dass das der richtige Weg ist: "Es gibt für die osteuropäischen Familien damit einen Grund weniger, ihre Kinder in den Herkunftsländern großzuziehen. Wenn sie sie nach Deutschland holen, könnten die Kosten für Berlin sogar steigen statt sinken."

Erst abwarten, dann entscheiden

Sozialarbeiterin besucht Daniela Tudor und Sohn Stefan
Bei den Tudors schaut regelmäßig eine Sozialbetreuerin vorbei, um zu prüfen, wie der Junge mit der Trennung vom Vater klarkommt. Bildrechte: MDR/Annett Müller

Der 40-jährige Georgica Tudor hat in seinem WG-Zimmer nahe Dortmund Bilder von seiner Frau und seinem Sohn über dem Bett hängen. Beim Einschlafen und Aufwachen sieht er den Grund, warum er fast 2.000 Kilometer entfernt von der Heimatstadt Pitesti lebt. Er überlegt gerade mit seiner Frau, was besser für die Familie ist. Dass sie zwei Haushalte in zwei Ländern finanzieren, ist für sie kostspielig genug. Noch rentiert sich das Parallelleben in Deutschland und Rumänien, auch dank des deutschen Kindergeldes. Sollen sie ganz nach Deutschland ziehen oder nicht? Der Ausgang des britischen Referendums wird auch Auswirkungen auf die Zukunftspläne der Tudors haben.