1. Mai 1993 - Prolog zur Verfassungskrise Blutiger Maifeiertag
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30. April 2015, 16:50 Uhr
Der 1. Mai 1993 ging als blutiger Maifeiertag in die Geschichte Russlands ein. Er gilt als Prolog der sich anbahnenden Verfassungskrise, die einige Monate später ihren Höhepunkt erreichen wird.
Russland befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer äußerst instabilen Lage: Es herrscht Hyperinflation, die Bevölkerung verarmt, innenpolitische Konflikte über den weiteren Kurs bestimmen die Stimmung im Land. Präsident Boris Jelzin will neoliberale Reformen durchsetzen, vom Parlament erhält er dafür jedoch keinen Zuspruch. Dieses versuchte kurz zuvor sogar ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einzuleiten. Jelzins Machtfundament ist brüchig. Bis 1993 verliefen die Mai-Demonstrationen friedlich, 76 Jahre lang. Auf dem Roten Platz fanden bis 1990 sogar Militärparaden statt, überall in den Städten und auf dem Land demonstrierte und feierte organisiert die Arbeiterklasse.
Arbeiter gegen Sondereinheiten der Miliz
Doch diesmal kam es anders. Der Mai-Marsch in Moskau wurde gewaltsam aufgelöst und gipfelte in einer blutigen Massenschlägerei zwischen Demonstranten und Sondereinheiten der Miliz. Auf die Straße gingen damals Anhänger verschiedenster oppositioneller Gruppierungen, aber auch ganz einfache Menschen, die empört waren über die Handlungen der Regierung, die sich in ihren Rechten eingeschränkt und in die Armut getrieben fühlten. Sie wollten sich gegen die Staatsgewalt positionieren, die ihnen ein gutes Leben nach dem Tausch des Sozialismus gegen den Kapitalismus versprochen hatte.
Angst vor einer Stürmung des Kremls
Erst einen Tag vor der geplanten Demonstration hatte die Stadtverwaltung die Organisatoren der Maidemonstration - die Front der Nationalen Rettung, das Arbeitende Moskau und die Kommunistische Partei der Russischen Föderation – darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Behörden diesmal nicht bereit wären, die gewohnte Route vom Oktober-Platz bis vor den Kreml zu genehmigen. Böse Zungen behaupteten später, Jelzin fürchtete, der Kreml könnte gestürmt werden. Erlaubt wurde lediglich ein Demonstrationszug bis zum Gorki-Park - eine kaum nennenswerte Entfernung vom Start der Route auf dem Oktober-Platz.
Heftige Auseinandersetzungen
Bereits am Morgen des 1. Mai war der Weg Richtung Innenstadt und damit der Zugang zum Manege-Platz vor dem Kreml durch Sondereinheiten der Miliz blockiert. Die Kolonne der Demonstranten entschloss sich, kurzerhand die Richtung zu wechseln und den Lenin-Prospekt stadtauswärts zu laufen. Neues Ziel der Kundgebung sollte der Platz auf den Sperlingsbergen unweit der Lomonossow-Universität werden. Doch dort kam der Demonstrationszug nie an. Als die Sondereinheiten von den neuen Plänen Wind bekamen, versuchten sie diese durch strategische Umgruppierungen zunächst vor Ort zu verhindern, doch eine Sitzblockade machte ihnen ein Durchkommen unmöglich. In der Folge umfuhren sie den Demonstrationszug auf einer Parallelstraße und errichteten an der Zufahrt zum Gagarin-Platz, der etwa 4 Kilometer vom Startpunkt des Marsches entfernt liegt, eine Barrikade.
Als die Demonstranten den Platz erreichten und sich einer ganze Reihe Lkw gegenüber sahen, fassten sie sich zu Tausenden an den Händen und rannten auf die Absperrung zu, fest entschlossen, diese zu durchbrechen. Mit Fahnenstangen schlugen Demonstranten auf die Milizionäre ein, rissen ihnen die Helme vom Kopf. Die Milizionäre antworteten mit Schlagstöcken und Wasserwerfern. Direkt über der Szenerie wehte ein großes Banner mit der Aufschrift „Alles Gute zum Feiertag, liebe Russen!“ Nachdem die Demonstranten bemerkten, dass in einigen Zündschlössern der LKW noch Schlüssel steckten, versuchten sie, diese als Rammbock für die Barrikaden zu benutzen. In der Folge wurde ein Milizionär, der 25-jährige Vladimir Toloknejew zwischen zwei ZiL-130 festgeklemmt und schwer verletzt. Nur wenige Tage später, am 5. Mai erlag er seinen Verletzungen. Auch die Sondereinheiten gingen brutal vor, so wurden Oppositionelle verprügelt, es gab Dutzende Verletzte. Ein Veteran des Großen Vaterländischen Krieges soll am darauffolgenden Tag an den Folgen heftiger Schläge gestorben sein. Offizielle Angaben zu Toten auf Seiten der Demonstranten gibt es bis heute nicht. Die Zeitungen von damals nahmen lediglich Bewertungen der Ereignisse vor: Die eine Seite schrieb, dass die Demonstranten die Unruhen selbst provoziert hätten, die andere Seite berichtete von der Brutalität der Sondereinheiten.
Spätere Ermittlungen verlaufen im Sand
Offiziell hieß es, die Miliz habe, indem sie die Demonstration auf nicht angemeldeter Route auflöste, im Rahmen des Gesetzes gehandelt. Später wurde vom Obersten Sowjet, den es zu diesem Zeitpunkt noch gab, eine Kommission zur Klärung der Umstände des blutigen Gewaltaktes einberufen. Die Ermittlungsergebnisse zeigten, dass die Sondereinheiten auf Anweisung der Moskauer Stadtbehörde unter Leitung des Bürgermeisters Juri Luschkow mit Gewalt auf die Proteste geantwortet haben sollen, sie sollen regelrecht „gewütet“ haben. Die Kommission forderte die Verantwortlichen auf, sich der strafrechtlichen Verantwortung zu unterziehen. Doch die Angelegenheit wurde vertuscht und verlief mit im Sande.
Krise im Land weitet sich aus
Der blutige Maifeiertag war erst der Anfang eines Konflikts, der Russland fast in den Bürgerkrieg trieb. Im Herbst 1993 ging Jelzin in die Offensive und löste per Dekret das Parlament auf, welches sich seinen Reformbestrebungen widersetzte. Die Abgeordneten erklärten dies als verfassungswidrig und enthoben Jelzin daraufhin seines Amtes. Die Verfassungskrise weitete sich im Oktober zu einem bewaffneten Konflikt aus, der schließlich mit dem Beschuss des Weißen Hauses in Moskau, dem damaligen Sitz des Obersten Sowjets, von Seiten Jelzin-treuer Streitkräfte endete. Die Kämpfe verliefen noch blutiger als am 1. Mai 1993. Mehr als 180 Menschen starben damals. Der Widerstand gegen Jelzin war gebrochen, eine neue Verfassung wurde bereits im Dezember verabschiedet. Jelzin blieb noch sechs Jahre im Amt.