Gedenkstätten-Leiter: "Historische Faktenkenntnis alleine reicht nicht" Jens-Christian Wagner über Verschwörungs-Mythen und Geschichts-Revisionismus
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21. Februar 2022, 19:13 Uhr
Bei "Querdenker"- und "Anti-Corona"-Demonstrationen gehören sie zum festen Repertoire; und kaum eine Twitter-, Facebook- oder Youtube-Debatte kommt ohne hoch fragwürdige historische Vergleiche und Bezugnahmen aus. Historiker wie Buchenwald-Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner blicken mit Sorge auf die neue Lust an der Umdeutung.
Regierung, Wissenschaft und Medien als verbrecherische Kräfte – Demonstranten, die sich als Opfer dieser Kräfte unterdrückt sehen, sich in eine Reihe mit Widerständlern wie der "Weißen Rose" stellen. Und trotzdem einträchtig neben Neonazis mit Reichskriegsflagge mitmarschieren. Solche Widersprüchlichkeiten sind schnell benannt und moralisch verurteilt.
Doch eben genau das reicht nicht, ist Prof. Dr. Jens-Christian Wagner überzeugt. Der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora belegt das beim Vortrag am Dresdner Hannah-Arendt-Institut mit dem bundesweit bekannt gewordenen Auftritt einer jungen Frau bei einer "Querdenker"-Demonstration in Hannover am 21. November 2020. Als "Jana aus Kassel" wird sie für Aufsehen sorgen, indem sie sich - sichtlich aufgeregt - mit der von den Nationalsozialisten als Hochverräterin hingerichteten Sophie Scholl vergleicht, da sie seit Monaten "aktiv im Widerstand" sei. Für diese Aussagen wurde sie im Nachgang von manchen gefeiert, von vielen kritisiert – eine "gezielte Grenzüberschreitung" wurde vermutet.
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist seit Oktober 2020 Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Zuvor leitete er die niedersächsischen Gedenkstätten. Als neuer Leiter möchte er den Kurs der Gedenkstätte in eine andere Richtung lenken. Während Rechte immer wieder versuchen, den Holocaust zu verharmlosen, werden die Zeitzeugen weniger. Vor diesem Hintergrund soll die Arbeit der KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora neu ausgerichtet werden.
Schuldumkehr und Opfermythen verharmlosen die Diktatur
Ich gestehe der Frau durchaus zu, in diesem Moment von ihren Aussagen überzeugt
gewesen zu sein.
Wager denkt, dass sie bei ihren Aussagen tatsächlich überzeugt war, in einer Linie mit Sophie Scholl zu stehen. Und: "Immerhin weiß sie ja, wer Sophie Scholl war", führt Wagner aus. Nur reiche eben die Kenntnis der Fakten alleine nicht: "Historisches Wissen braucht Einschätzung!" Denn "Jana aus Kassel" sei nur ein Beispiel dafür, wie Corona-Kritik und Verschwörungs-Erzählungen Geschichtsklitterung befeuern. So würden Nationalsozialisten und ihre Opfer instrumentalisiert, um zu zeigen, dass wir in einer ähnlichen Diktatur lebten: "Wenn Änderungen am Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 gleichgesetzt werden, führt das zu einem 'Weichwaschen des Nationalsozialismus' und ist Zeichen einer Schuldumkehr," sagt Wagner. Im Zuge der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sei solches immer wieder zu beobachten.
MEMO-Studie zur Erinnerungskultur
Zahlen zu dieser Beobachtung liefert aktuell eine Studie der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ): Sie belegt, dass die Anhänger von Verschwörungsmythen historisch weniger gut informiert sind und häufiger mit revisionistischen Perspektiven speziell auf die Zeit des Nationalsozialismus blicken. Zwar lehnten es knapp 90 Prozent der Befragten ab, das Leiden der deutschen Bevölkerung während der aktuellen Pandemie mit dem Leid von Menschen während der NS-Zeit gleichzusetzen. Gerade Menschen, die Verschwörungserzählungen glaubten, seien aber bereit, die Bevölkerung während der NS-Zeit von Verantwortung entlasten, das Leiden der NS-Opfer mit dem der Täter gleichsetzen und an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden zweifeln. Auch in punkto historischer Sensibilität der gesamten Gesellschaft zeichnet die Studie ein zwiespältiges Bild: So nannten 20 Prozent auf die Frage nach Ereignissen mit NS-Bezug in der jüngeren Vergangenheit den rechtsextremen NSU-Terror oder den Anschlag in Hanau im vergangenen Jahr. Fast die Hälfte der Befragten (46 Prozent) gab jedoch keine Antwort oder sah keine Verbindungen.
Gedenkstätten dürfen nicht nur "Opferorte" sein
In der Pflicht sieht Historiker Jens-Christian Wagner hier auch die Gedenkstättenarbeit:
Hier wird zu oft getrauert, ohne nachzudenken. Die Identifikation mit den NS-Opfern geschieht, ohne dass man schaut, wie diese zu Opfern wurden. Und was die Täter zu Tätern machte.
Entsprechend wenig hilfreich seien Gedenkorte, die sich nur als "Opferorte" verstünden und die Geschichte der Täter ausblendeten. "Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die nach dem 'Warum' fragt und die Relevanzfrage ernst nimmt. Diese muss bereits in der Schulbildung ansetzen," ist der Leiter der Thüringer Gedenkstätten überzeugt. Möglicherweise ließen sich so in Zukunft Bilder wie die von "Jana aus Kassel" oder die Gleichsetzung des Infektionsschutz- mit dem Reichsermächtigungsgesetz verhindern.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL - Das Nachrichtenradio | 09. Mai 2021 | 08:15 Uhr