Geschichte des Notabiturs: Von der Schulbank an die Front
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01. März 2021, 18:23 Uhr
Loriot machte es. Bertolt Brecht machte es. Und Siegfried Lenz auch. Die Rede ist vom Notabitur. Und auch in diesem Frühjahr könnte bundesweit den Gymnasiasten auf Grund der Corona-Pandemie ein Notabitur bevorstehen. Vor allem die Länder mit frühem Ferienbeginn überlegen: Sollen wir das normale Abitur beibehalten, verschieben, ausfallen lassen? Alle Möglichkeiten sind im Gespräch.
Ein "Notabitur" ist keine neue Idee. Schüler mit reduzierten Prüfungen den Schulabschluss zu erteilen - das gab es bereits zwei Mal in der deutschen Geschichte. Zunächst durfte es damals nur ablegen, wer danach in den Krieg zog.
Erster Weltkrieg: In Uniform zur Abi-Prüfung
August 1914. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen. Überall in Deutschland melden sich Jugendliche für den Einsatz an der Front. Die Begeisterung ist groß, viele wollen in den Krieg - vor allem Gymnasiasten und Studenten. Viele haben sogar Angst, den Fronteinsatz zu verpassen, denn noch glaubt man, dass es sich um eine kurze Angelegenheit handeln wird! Eigentlich dürfen im Kaiserreich erst Männer ab 20 zum aktiven Kriegsdienst eingezogen werden. Doch das Notabitur erlaubt es auch Jugendlichen der 10. bis 13. Klasse, von der Schulbank an die Front zu wechseln.
Voraussetzung ist, dass die Jungen kriegstauglich und die Eltern einverstanden sind. Die meist 17-Jährigen haben vielfach schon ihre Uniformen an, als sie vor den Lehrern stehen und sich prüfen lassen. Es sind leichte Fragen, manchmal ist nur ein Aufsatz zu verfassen - niemand fällt durch. Mit diesem Notabitur verlassen die Jungen die Schule wenigstens mit einem Abschluss. Alle, die sich nicht melden, machen ein normales Abitur.
Auch Bertolt Brecht machte Notabitur
Bertolt Brecht teilt 1917 nicht die zu Kriegsbeginn weit verbreitete Frontbegeisterung. In einem Schulaufsatz am Augsburger Gymnasium schreibt er: "Der Ausspruch, dass es süß und ehrenvoll sei, fürs Vaterland zu sterben, kann nur als Zweckpropaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bette wie im Schlachtfeld, am meisten gewiss jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre." Haarscharf entgeht er einem Rausschmiss. Und darf die Schule mit einem Notabitur abschließen, das nur aus einer mündlichen Prüfung besteht. Ein anderes Abitur gibt es nicht mehr. Es sind gerade mal noch vier Mitschüler, die mit ihm geprüft werden. Die anderen sechzehn Jungen seiner Klasse sind schon an der Front. Wegen seines Herzleidens war Bert Brecht für kriegsuntauglich erklärt worden.
Himmler studiert mit Notabitur Landwirtschaft
Dass man sein Notabitur sogar noch nach dem Krieg machen konnte, zeigt die frühe Karriere des späteren SS-Chefs Heinrich Himmler. Er ist noch nicht einmal 14 Jahre alt, als der Krieg beginnt. Er will Offizier werden. Für diesen Wunsch verlässt er 17-jährig ohne Abitur die Schule, die damals bis zur 13. Klasse geht. Als 18-Jähriger kann er eine Ausbildung als Offiziersanwärter beginnen. Nur kommt er nicht mehr zum Einsatz und wird Ende des Jahres 1918 wieder nach Hause geschickt. Seine militärische Karriere gibt er nun auf und besucht - für ein Landwirtschaftsstudium an der TH München - erneut das Gymnasium. Im Juli 1919 erhält Himmler, entsprechend einer Sonderregelung für ehemalige Kriegsteilnehmer, das Zeugnis der Hochschulreife, ohne sich je der eigentlichen Abiturprüfung unterziehen zu müssen.
Zweiter Weltkrieg: Aus Schülern werden Soldaten
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, Anfang September 1939, ist das Notabitur wieder eine Möglichkeit für die Oberprimaner, schnell an die Front zu kommen. Einige nutzen das. Ihre Reifeprüfung darf aber nur dann als Notabitur vorverlegt werden, wenn es nicht mehr als ein halbes Jahr bis zum offiziellen Termin ist. Das abgespeckte Abitur bezieht sich auf den bis dahin unterrichteten Stoff und dauert eine Woche.
Nach Beginn des Russlandfeldzugs im Jahr 1941 werden die jungen Männer immer früher einberufen. An der Ostfront werden Soldaten gebraucht. Die Schüler müssen ihre Reifeprüfung nun vorzeitig ablegen. Bernhard-Victor Christoph-Carl von Bülow - Vicco genannt und später als Loriot bekannt - ist 19 Jahre alt, als er im März 1942 sein Notabitur erhält. Ohne schriftliche Prüfung, ohne Feier. Aus dem Stuttgarter Schüler wird ein Soldat an Ostfront.
Ab 1943: Reifevermerk statt Abitur
Der Schriftsteller Siegfried Lenz erhält schon als 17-Jähriger sein Notabitur. Zu dieser Zeit ist der spätere Pazifist noch überzeugter Hitlerjunge und geht zur Kriegsmarine. Er gehört zu den Letzten, die die Schule überhaupt mit einem Abitur abschließen. Ab 1943 werden die meisten Schüler nur noch mit einem "Reifevermerk" entlassen. Die Abschlussnoten setzen sich aus den Zensuren der letzten drei Schuljahre zusammen.
Bereits 15-Jährige werden jetzt als Flakhelfer in der Nähe ihres Wohnortes eingezogen. Zur Schule gehen sie nun nur noch 18 Stunden in der Woche, wenn überhaupt. In den Abiturklassen sind nur noch Mädchen und ein paar Jungen, die sehr früh eingeschult wurden oder nicht wehrdienstfähig sind.
Nach dem Krieg: Und nun nochmal richtig
Dass dieses Abschlusszeugnis nach dem Krieg nicht viel mehr wert ist, als das Papier, auf dem es gedruckt wurde, müssen viele nach 1945 schmerzlich erfahren. In den westlichen Besatzungszonen bietet man den zurückgekehrten jungen Männern vor Studienbeginn eine Prüfung oder ein schnelles Abitur in nur sechs Monaten an.
Vicco von Bülow ist einer von 157 Abiturienten in solch einem Abiturkurs in Northeim im heutigen Niedersachsen. Der Vorbereitungsunterricht findet räumlich getrennt von den Normalabiturienten statt. Insgesamt besteht die Klasse aus 50 Schülern, darunter auch einigen Frauen. Loriot ist damals bereits 23, andere Abiturienten sind allerdings noch älter. Mit seinem Notabitur hat er Glück. Manche, die nur mit dem "Reifevermerk" abgegangen oder zu kurz auf dem Gymnasium waren, müssen noch einmal, ganz regulär die Schulbank drücken.
Mit 32 Jahren noch mal auf die Schulbank
In der sowjetischen Besatzungszone wird das Notabitur nicht anerkannt. Als am 1. Oktober 1945 der Schulbetrieb wieder anläuft, bietet sich vielerorts ein seltsames Bild. Davon erzählt Helmar Meinel, damals Abinachholer in Oelsnitz im Vogtland in einem Spiegel-Interview 2008: "Wir passten in der Tat nicht so richtig in den normalen Schulbetrieb, sondern waren die 'Opas' der Klasse. Gerhard, mit 32 Jahren der Älteste von uns, war Major bei den Panzerjägern gewesen, Träger des 'Deutschen Kreuzes in Gold' für persönliche Tapferkeit und dreimal verwundet." Aus Kriegern werden nun wieder Schüler.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 03. April 2020 | 19:00 Uhr