Die Flagge von Finnland wird im Rahmen der NATO-Beitrittszeremonie fuer Finnland vor dem NATO-Hauptquartier gehisst.
Finnlands Fahne weht seit dem 4. April 2023 vor dem Nato-Hauptquartier in Brüssel. Bildrechte: IMAGO/photothek

Nato-Beitritt vollzogen Finnland und sein Verhältnis zu Russland

kommentiert von Hartmut Schade, MDR GESCHICHTE

04. April 2023, 17:35 Uhr

Finnland hat mit dem Beitritt zur Nato seine jahrzehntelange Neutralität aufgegeben. Die Finnen folgen damit den anderen skandinavischen Staaten Dänemark und Norwegen, die zu den Nato-Gründungsmitgliedern gehörten. Wie kam es zum finnischen Sonderweg der Neutralität, eingeklemmt zwischen Nato und Russland? Unser Autor und Historiker Hartmut Schade ist in der DDR aufgewachsen und mit dem Feindbild Nato groß geworden.

DDR-Kind: Der Feind im Westen

Der Feind steht am Rhein. So bekomme ich es als DDR-Bürger eingebläut. Von der Schule über die NVA bis zum Unistudium: Demnach sind die Bonner Militaristen die Speerspitze des aggressiven amerikanischen Imperialismus. Und das Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen ist die Nato, gegründet 1949. Als Reaktion darauf verabschieden acht Staaten 1955 den Warschauer Vertrag, in westlicher Diktion "Warschauer Pakt". Die Chronologie erlaubt es den Genossen, sich als reines Verteidigungsbündnis zu präsentieren.

Das Bedrohungsszenario ist Teil der Propaganda, aber die betraf mich nicht unmittelbar in meinem Leben damals als Kind. Aufgewachsen bin in der Nähe von Greifswald. Ich war eher fasziniert als DDR-Kind, Jahrgang 1960, mal echte Skandinavier zu sehen. Die "Westler" fanden sich alljährlich auf den Volksfesten während der Ostseewochen ein. Dieses Ereignis stand unter dem Slogan "Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein". Dabei kamen Friedensaktivisten aus den Ostsee-Anrainerstaaten zusammen. Die DDR gerierte sich zusammen mit Schweden und Finnland als Friedensvorkämpfer.

Warum ausgerechnet die Finnen und Schweden so entschieden den sowjetischen Kurs unterstützten, habe ich mich nicht gefragt. Damit beschäftige ich mich erst viele Jahre später, Mitte der 1980er Jahre beim Geschichtsstudium in Leipzig.

Tabuthema: sowjetischer Angriffskrieg

Ungefähr 1984 höre ich auf den Fluren der Sektion Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig einen Begriff, der mir im schulischen Geschichtsunterricht nicht begegnet war: "Winterkrieg". Ein Professor ist strafversetzt worden, weil er den "Winterkrieg" als sowjetischen Angriffskrieg bezeichnet hatte.

Der Überfall der Sowjetunion auf Finnland ist damals ein Tabuthema und bis heute ein vergessenes Kapitel der stalinschen Angriffskriege. Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt werden nicht nur der östliche Teil Polens und das komplette Baltikum der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen, sondern auch Finnland und Bessarabien, in etwa das heutige Moldau.

Die Finnen unter schwedischer Herrschaft

Im Mittelalter eroberten die Schweden das Land der tausend Seen und gliederten es in ihr Reich ein. Schweden und Finnland gehörten danach jahrhundertelang zusammen. So schreibt es auch Mauno Koivisto, der von 1982 bis 1994 der Präsident der Republik Finnland war, in einem seiner Aufsätze.

Seit Menschengedenken war Finnland organischer Bestandteil der früheren europäischen Großmacht Schweden, empfand daher auch die finnische Geschichte als Bestandteil der Geschichte Schwedens.

Mauno Koivisto, Buch: "Geographie und Geschichte", (1992, ECON-Verlag)

Finnland als Teil des Zarenreichs

Am Anfang des 18. Jahrhunderts wendet sich das Blatt. Zar Peter der Große etabliert Russland als europäische Großmacht. Im Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 besiegt er die Schweden, Teile Finnlands fallen an das Zarenreich. Nach zwei weiteren Kriegen gegen die Schweden wird Finnland als autonomes Großfürstentum 1809 dem Zarenreich einverleibt.

Ein Sieg mit Langzeitfolgen, schreibt Mauno Koivisto: "Als Schweden seine Großmachtstellung einbüßte…, ging von dem ehemaligen skandinavischen Großreich keine kriegerische Aggression mehr aus. Doch während es den Schweden glückte, sich aus militärischen Auseinandersetzungen herauszuhalten und somit ihre Neutralität zu bewahren, gelang dies den Finnen nicht."

Finnland wird unabhängig

Die Finnen entwickelten unter der russischen Herrschaft ihre eigene nationale Identität. Das Bewusstsein, eine eigene Kultur und Sprache zu haben, wuchs. Das spiegelt sich beispielsweise im Nationalepos "Kalevala" wieder, ein Heldenepos ähnlich wie die "Ilias", erschienen 1835 auf der Basis von mündlichen Überlieferungen. Im Sommer 1919 wird Finnland zur unabhängigen Republik und Finnisch zur offiziellen Amtssprache.

Für Kommunistenführer Wladimir Iljitsch Lenin sind Finnen und Polen die einzigen Völker im Zarenreich, die er als Nationalität anerkennt. Vollmundig verkündet er im April 1917:

Ein russischer Sozialist, der die Freiheit Finnlands negiert, ist ein Chauvinist.

Wladimir Iljitsch Lenin, Symbolfigur der russischen Oktoberrevolution 1917

Die Unabhängigkeit Finnlands wird festgeschrieben und geregelt im Versailler Vertrag.

Der Britische Premierminister David Lloyd George unterzeichnet den Versailler Vertrag am 28. Juni 1919.
Der Britische Premierminister David Lloyd George unterzeichnet den Versailler Vertrag am 28. Juni 1919. Bildrechte: IMAGO / United Archives International

1939: Russland überfällt Finnland

Dass die Sowjets die Unabhängigkeit Finnlands jedoch nie wirklich akzeptierten, zeigt sich im Geheimabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt. Da wird Finnland der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. Am 30. November 1939 fällt die Rote Armee in Finnland ein, womit wir wieder beim Winterkrieg vom Anfang sind. Außenminister Väinö Tanner schreibt Ende Oktober 1939 einen Brief an den schwedischen Ministerpräsidenten Per-Albin Hansson:

Ein kleines Land im Kampf gegen eine Großmacht, die ihren Willen durchsetzen will, das ist ein zu ungleiches Spiel.

Väinö Alfred Tanner, ehem. Ministerpräsident und Aussenminister Finnlands

Entgegen der düsteren Ahnungen von Außenminister Väinö Tanner behaupten sich die zahlenmäßig deutlich unterlegenen finnischen Truppen gegen die Rote Armee. Stalins Kalkül, ganz Finnland wieder ins russische Imperium einzugliedern, scheitert. Doch im Friedensvertrag von Moskau 1940 muss Helsinki große Teile Kareliens und die erzreiche Fischerhalbinsel im Norden abtreten. Rund ein Zehntel der finnischen Industrieproduktion fällt an die Sowjetunion. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 versucht Finnland, diese Gebiete zurückzuholen, scheitert aber auch aufgrund der deutschen Niederlage. Im Nachkriegsfriedensvertrag muss Finnland den einzigen eisfreien Nordmeerhafen an die Sowjetunion abgeben und verliert damit den Zugang zum Nordmeer.

Der schwedische Weg in die Neutralität

Auch Schweden will der Nato-Beitreten und seine althergebrachte Neutralität aufgeben, wartet aber noch auf die Zustimmung der Türkei und Ungarns. Die schwedische Neutralität begann 1810. Ein Jahr, nachdem Schweden Finnland an Russland abtreten musste, wird der französische Revolutionsmarschall Jean-Baptiste Bernadotte zum schwedischen Thronfolger gewählt. Unter dem Namen Karl Johann übernimmt er die Regierungsgeschäfte in Schweden. Der Mann, der mit Napoleon halb Europa erobert hat, schwört als Schwedenkönig Karl XIV. Johann jeglichem Expansionsdrang ab und verpflichtet das Land auf einen Neutralitätskurs. Einen Friedensvorschuss gibt es für die Schweden aber nicht. Bei der Verteidigung darf nicht gespart werden, fordert Karl Johann.

Es ist Sache der Vertreter der Nation, diese Mittel zu bewilligen, wenn sie das Land vor einem möglicherweise eintreffenden feindlichen Angriff bewahren wollen.

König Karl XIV. Johann von Schweden (Bernadotte)

Karl Johanns Prinzipien gelten seit 200 Jahren: Neutralität auf Basis einer wehrhaften Verteidigung. Doch seit 2014 ändert sich die schwedische Haltung allmählich. Auch weil immer wieder russische U-Boote und Flugzeuge schwedisches Territorium verletzen. 

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Schweden passt seine Armee den technischen Standards der Nato an, führt die Wehrpflicht wieder ein und reaktiviert militärische Standorte, die unweit der russischen Grenze liegen (eine direkte Landverbindung zu Russland hat das Land allerdings nicht, der Weg nach Russland führt über Finnland). Begründung dafür ist schon 2018, die "veränderte Sicherheitslage" an der Ostsee.

Finnland will mit Russland auskommen

1947 schließt Finnland einen Friedensvertrag mit der Sowjetunion. Im Folgejahr drückt Josef Stalin durch, dass Finnland und die osteuropäischen Staaten einen "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" abschließen. Er wird mehrfach erneuert, zuletzt 1983. Der ehemalige finnische Präsident Mauno Koivisto betonte in seiner Rede die Kooperation mit Russland: "Zum östlichen Nachbarn, der Großmacht Sowjetunion, mussten gute Bedingungen hergestellt werden. Das überlieferte Misstrauen musste zerstreut und an seiner Stelle Vertrauen geschaffen werden".

Zum östlichen Nachbarn, der Großmacht Sowjetunion, mussten gute Bedingungen hergestellt werden.

Mauno Koivisto, 14. Oktober 1984

Spannender als diese Worte von Finnlands Präsident Mauno Koivisto sind Zeitpunkt und Grund der Rede. Das Zitat stammt aus einer Ansprache zum 40. Jahrestag der "Gesellschaft Finnland-Sowjetunion". Weitere Reden aus dem Sammelband "Geographie und Geschichte" des finnischen Ministerpräsidenten wurden zum 70. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution gehalten. Anderen westlichen Ministerpräsidenten kam es nicht in den Sinn, die bolschewistische Machtergreifung zu würdigen. Finnland aber wollte und konnte es sich mit dem mächtigen Nachbarn im Osten nicht verscherzen. Auch wirtschaftlich zahlt sich die Kooperation mit der Sowjetunion aus. Ihre Forderung, die Kriegsreparationen mit Industriegütern zu bezahlen, fördert die finnische Industrie.

Ironischer Haken der Geschichte: Weil Finnland sich eng an die Sowjetunion anlehnt, wird es zum akzeptierten Mittler zwischen Ost und West. Größter außenpolitischer Erfolg ist die Helsinkier Schlussakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Die dort festgeschriebenen Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Europäer lassen die Bürgerrechtsbewegungen im Ostblock erstarken und werden damit zu einem Sargnagel des Sowjetimperiums.

Unsere Werte sind Putins Albtraum

Was mir Freiheit und Demokratie brachte, mir Reisen nach Finnland ermöglichte, ist für Wladimir Putin ein Albtraum. "Die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", wie er sagte. Denn nicht nur einstige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten, die Ukraine, Georgien und Moldau erklärten sich für unabhängig, auch Finnland nahm seit den 1990er Jahren immer weniger Rücksicht auf die Wünsche und Befindlichkeiten Moskaus.

Dazu gehört auch, die eigene Armee westlichen, also Nato-Standards anzupassen. Eine Politik, die auch die Schweden verfolgen. Doch das Prinzip der Neutralität galt für beide Staaten als unantastbar. Bis zum 24. Februar 2022. Das ausgerechnet ein mit russischen Sicherheitsinteressen begründeter Krieg gegen die Ukraine nun zum Ende der Neutralität führt, ist eine Ironie der Geschichte. Eine beunruhigende. Der Feind steht nicht mehr am Rhein, sondern an der Moskwa.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 04. August 2022 | 10:15 Uhr

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