Fans Hallescher FC zeigen Choreo und zünden Pyrotechnik.
Aufwendige Choreografien sind das Markenzeichen der Ultras – hier eine Choreo der Fans dess Halleschen FC. Bildrechte: IMAGO/Picture Point LE

Fußball Sind die Ultras besser als ihr Ruf?

28. August 2024, 05:00 Uhr

Sie haben nicht gerade den besten Ruf. Gewalt, Sexismus, Rassismus, Pyrotechnik, Homophobie prägen das Bild der Ultras, einer besonderen Form der Fussball-Fankultur. Doch dieses Bild ist möglicherweise zu einseitig. MDR-Reporterin Friederike Franke konnte mit Vertretern dieser Fangruppe sprechen, die sich sonst gegenüber Journalisten wortkarg geben. Wer sind die Ultras wirklich? Wie unterscheiden sie sich von "normalen" Fans? Und welche Rolle spielen sie im modernen Fußball?

Bekannt für Pyrotechnik und Choreografien

Mehr als 300 Ultra-Gruppen mit geschätzt etwa 25.000 Mitgliedern gibt es in Deutschland. Die breite Öffentlichkeit verbindet Ultras vor allem mit aufwendigen Choreografien im Stadion und der häufigen Nutzung von Pyrotechnik. "Pyrotechnik finden eigentlich alle Ultras gut. Dafür werden sie regelmäßig kritisiert. Doch Ultras sind eben noch viel mehr", resümiert MDR-Reporterin Friederike Franke die Ergebnisse ihrer Recherche für die Doku "Mehr als Gewalt und Pyro?".

Die Choreografien und der Gebrauch der eigentlich verbotenen Pyrotechnik sind ein Ausdruck ihrer Leidenschaft und ihres Engagements, die sie von "normalen" Fans unterscheiden. Das bestätigt Mia Güthe, eine Sportjournalistin, die u.a. für "11 Freunde" schreibt und regelmäßig über die Ultrakultur berichtet. "Ultras wollen vor allem eins: ihren Verein bedingungslos unterstützen. Eben noch krasser als normale Fans", so Güthe.

Philipp Markhardt, ein ehemaliger Ultra, erinnert sich an die ersten Choreos in Hamburg: "Es ging hier los mit Fotos aus Italien, mit Fotos von irgendwelchen Pyroaktionen auch in Deutschland. Das fanden alle jungen Leute, die zum Fußball gegangen sind, ziemlich interessant. Also hat man Rauchpulver bestellt oder bengalische Feuer, Seenotfackeln aus dem Segelladen geholt usw., und dann ging es mit selbst gemachten Choreografien los. Dann kam auch diese Mentalität auf: Alles für den Verein, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche."

Es ging hier los mit Fotos von Pyroaktionen aus Italien und auch aus Deutschland. Das fanden alle jungen Leute, die zum Fußball gegangen sind, ziemlich interessant.

Philipp Markhardt, ehemaliger Ultra

Typisch für Ultras und ein weiteres Unterscheidungsmerkmal gegenüber "gewöhnlichen" Fans ist auch ein hohes Maß an Organisation, teils sogar mit ausgeprägten Hierarchien. Ohne diese Organisation wären komplexe Choreografien im Stadion kaum möglich.

Fans des SV Eintracht Trier zünden Pyrotechnik.
Fußball-Ultras werden in der Öffentlichkeit vor allem mit dem häufigen Zünden von Pyrotechnik im Stadion in Verbindung gebracht, doch das Bild ist zu einseitig. Hier die Fans des SV Eintracht Trier. Bildrechte: IMAGO/Fussball-News Saarland

Kampf gegen Kommerzialisierung des Fußballs

Ein zentrales Anliegen der Ultras ist der Kampf gegen die Kommerzialisierung des Fußballs. "Ultras sind Fans, die als Korrektiv in einem Profigeschäft fungieren, das so profitgetrieben ist, dass dort nur noch die Regeln des Marktes gelten", sagt Sportjournalistin Güthe. Ex-Ultra Markhardt bringt es einfacher auf den Punkt: "Ich unterstütze zwar einen Verein, aber ich unterstütze mit Sicherheit keine Aktiengesellschaft. Fußball sollte ein demokratisches Konstrukt sein."

Ich unterstütze zwar einen Verein, aber ich unterstütze mit Sicherheit keine Aktiengesellschaft.

Philipp Markhardt, ehemaliger Ultra

Kritik an der Kommerzialisierung des Fußballs gehört seit den Anfängen zum Selbstverständnis der Ultrabewegung, die in Italien begann. Ein Sportreporter des deutschen Fernsehens, der in den Sechzigern über Spiele der italienischen Liga berichtete, bemerkte schon damals erstaunt, das Fußball in Italien Business ist: "Die Firma AC Mailand lässt keine Möglichkeit zum Inkasso (Geld einziehen – Anm. d. Red.) aus – während der Halbzeit dient der Platz als Reklamefläche", kommentierte er das Aufstellen eines (nach heutigen Maßstäben noch relativ kleinen) Werbebanners mitten auf dem Spielfeld.

In Deutschland beginnt die Kommerzialisierung in großem Stil etwa ein Vierteljahrhundert später. Den Startschuss gibt Ende der 80er Jahre das neu entstandene Privatfernsehen. 40 Millionen D-Mark pro Saison zahlt die Produktionsfirma Ufa, die damals Anteile an RTL hält, für die Rechte an der Übertragung der Bundesliga – viermal mehr als ARD und ZDF vorher auf den Tisch gelegt haben.

Der zweite große Schub folgt nach der Erfindung der UEFA-Champions-League Anfang der 90er Jahre. Fußball wird zum weltweiten Milliardengeschäft. Immer eifriger werden weitere Einnahmequellen erschlossen: Werbeverträge, Merchandising. Fußballer werden zu Millionären, und ihre Lebenswirklichkeit ist mittlerweile eine komplett andere als die der Fans. "Ein Extrembeispiel lieferte 2019 Franck Ribery mit einem Goldsteak für angeblich 1.200 Euro", nennt Reporterin Franke ein besonders stark kommentiertes Beispiel für diese Entwicklung.

Diese Entfremdung von der Fanbasis kritisieren Ultras. Und auch die Entwicklung, dass aus den Spielen immer häufiger Events werden, bei denen es nicht nur um den Sport geht. Als der DFB im Pokalfinale 2017 auf Helene Fischer in der Halbzeitpause setzte, wurde sie ausgepfiffen. Die Bühne soll dem Fußball gehören, nicht einem Schlagerstar, machten die Ultras unmissverständlich deutlich.

Dresdner Fanblock protestiert gegen die Übernahme von RB Leipzig durch Red Bull - Dynamo sagt Nein zum Produkt RB Leipzig
Feindbild Kommerzialisierung: Bei einem Spiel im August 2009 protestierten Fans des Drittligisten Dynamo Dresden gegen die Übernahme von RB Leipzig durch Red Bull. RB Leipzig hat sich seitdem in die Bundesliga hochgearbeitet. Bildrechte: IMAGO / Bild13

Soziales Engagement der Ultras

Ein Merkmal, das angesichts des negativen Images der Ultras überraschen mag, ist das soziale Engagement der Ultras. Als die Tafeln während der Corona-Pandemie weniger Lebensmittel erhielten und auch weniger Ehrenamtler bei deren Verteilung halfen, sprangen beispielsweise die Ultras von der "Südkurve Jena" in die Bresche. Sie starteten einen Spendenaufruf und konnten schon fünf Tage später 2,2 Tonnen Lebensmittel an Tafeln in der Region ausliefern.

Die "Badkurve Plauen" organisierte während der Pandemie Einkaufs- und Botengänge für Menschen aus der Risikogruppe. Ultras halfen auch nach der Flutkatastrophe im westdeutschen Ahrtal Betroffenen vor Ort – als Erste, wie Jonas Gabler betont, dessen Buch über die Ultras bereits in fünf Auflagen erschienen ist. Einige Ultragruppen setzen sich auch gegen Rassismus und Diskriminierung ein.

Frauenfrage und Politik

Ein Thema, das in der Ultrakultur eine Rolle spielt, ist die Stellung von Frauen. Trotz des zunehmenden Anteils weiblicher Fans – mittlerweile füllen etwa 30 Prozent der Ränge in den Stadien Frauen – ist die Ultrakultur nach wie vor männerdominiert. Bei der Einstellung zu Frauen ist die Ultraszene sehr gespalten: Während manche Gruppen sich Gleichberechtigung direkt auf die Fahnen schreiben und sogar spezielle Choreografien zum Internationalen Frauentag ausdenken, verhängen andere Regeln wie: "Keine Weiber in den ersten drei Reihen im Stadion".

Fans von St Paul mit einer Choreo zum Thema Frauen im Stadion
Bei einem Spiel kurz nach dem Internationalen Frauentag haben die Fans von FC St. Pauli eine Choreografie zum Thema Gleichebrechtigung gezeigt. Bildrechte: IMAGO/Matthias Koch

"Ich habe von Frauen gehört, die jahrelang darauf gewartet haben, dass innerhalb von Ultragruppierungen entschieden wurde, ob sie eine Frau aufnehmen oder nicht. Wo ich persönlich sagen würde: Ja, dann lass stecken, dann will ich gar nicht Teil davon sein", berichtet Sportjournalistin Güth. Sie räumt aber ein: "Wenn ich zum HSV gehe und in den Ultra-Blöcken bin, fühle ich mich sicherer, als wenn ich nicht in den Ultrablöcken bin."

Überhaupt vertritt die Ultraszene eine ganze Bandbreite von Einstellungen, nicht nur bei der Frauenfrage, sagt Buchautor Gabler. Das beginne schon bei den Strukturen: "Manche sind eher hierarchisch, manche eher basisdemokratisch organisiert". Jede Gruppe habe zudem ihre eigenen Schwerpunkte: "Es gibt Ultragruppen, denen politisches Engagement am wichtigsten ist oder auch Antidiskriminierungsengagement. Oder Graffiti. Es gibt aber auch Gruppen, die einen Schwerpunkt auf Gewalt und Gewaltausübung legen." Auch politisch lassen sich Ultras Gabler zufolge nicht eindeutig zuordnen – neben eher rechten oder eher linken Gruppen gebe es auch welche, die unpolitisch sind bzw. unterschiedliche und auch gegensätzliche politische Einstellungen bei den Mitgliedern akzeptieren.

Besuch bei Ultras aus Heidenheim

Eigentlich sprechen Ultras nicht gern mit Journalisten. Im Stadion können einem schnell Sätze wie "Verpiss dich, du Pressefotze" um die Ohren fliegen. MDR-Reporterin Franke konnte jedoch mit einer Gruppe sprechen – den "Fanatico Boys" vom 1. FC Heidenheim. Sie gehören nicht zu den größten oder ältesten Ultragruppen in Deutschland, aber immerhin gibt es sie schon seit 16 Jahren. Das anonyme Interview sehen sie als Chance, das Bild der Ultras in der Öffentlichkeit ein wenig zurechtzurücken.

1.FC Heidenheim in der Voith-Arena
Der 1. FC Heidenheim ist die "Heimat" der "Fanatico Boys". Bildrechte: IMAGO / MIS

"Es gibt dieses Bild, das sich irgendwie eingebrannt hat in der Öffentlichkeit: Ultras sind ganz böse. Das wären Terroristen der Fußballfans – was völliger Quatsch ist!", sagt Ultra Kevin. "Wir sind mit Sicherheit fanatisch. Wir machen mit Sicherheit auch Sachen, die nicht immer unbedingt erlaubt sind. Aber im Großen und Ganzen geht es uns um die Gemeinschaft und darum, unseren Verein bestmöglich zu unterstützen", fährt er fort.

Es gibt dieses Bild, das sich irgendwie eingebrannt hat in der Öffentlichkeit: Ultras sind ganz böse. Das wären Terroristen der Fußballfans – was völliger Quatsch ist!

Kevin, Fanatico Boys Heidenheim

Auch bei ihnen spiele soziales Engagement eine große Rolle: "Das nennt sich bei uns rot-blaues Herz. Da haben wir jedes Jahr beim Straßenfest in Heidenheim einen eigenen Stand. Dort sammeln wir Spenden für soziale Einrichtungen hier im Landkreis. Einfach, um der Stadt auch etwas zurückzugeben, was sie uns gibt."

Wichtig ist den "Fanatico Boys" außerdem, dass sich jeder in der "Kurve" wohl fühlt, unabhängig von Geschlecht, Sexualität oder Hautfarbe. Die Grundvoraussetzung, um bei ihnen Mitglied zu werdeen, sei "der antirassistische Konsens", betont Kevin: "Wir wollen keine Nazis oder Faschos in unserem Dunstkreis haben." Darüber hinaus müssten sich Bewerber durch Engagement im Stadion auszeichnen, auf sich aufmerksam machen, Vertrauen gewinnen. "Weil Ultrasein, bedeutet auch immer Arbeit und Verantwortung übernehmen, denn das Ding funktioniert nicht von allein. Da ist kein Dienstleister da, der sagt: Ich mache das für euch."

Fazit: Ultras sind sehr unterschiedlich

Nach Abschluss ihrer Recherche zieht MDR-Reporterin Franke ein gemischtes Fazit: "Ich bin nach den Dreharbeiten der Meinung, dass man Ultras nicht einfach als gewaltbereit und chaotisch abstempeln kann. Was ich von den Experten, Ex-Ultras und den Aktiven lernen konnte: Die Bewegung ist extrem heterogen." Nur in zwei Punkten gibt es einen gemeinsamen Nenner: bei der bedingungslosen Unterstützung ihrer Vereine und beim Kampf gegen die Kommerzialisierung des Fußballs. Dies habe sie sehr beeindruckt. Viele Gruppen engagieren sich außerdem sozial.

Dennoch, so unsere Reporterin, es gibt Schattenseiten: Oft bewegten sich Ultras auch jenseits der Legalität, trugen Konflikte mit gegnerischen Gruppen oder der Polizei aus. Auf Gewalt, Pyrotechnik und Frauen in der Kurve hätten viele Ultras nach wie vor eine ganz eigene Sicht. Und so steht für Friederike Franke fest: Die Ultras dürften auch in Zukunft anecken.

Friederike Franke
MDR-Reporterin Friederike Franke Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

(MDR/baz)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Past Forward: Mehr als Gewalt und Pyro? | 28. August 2024 | 21:15 Uhr