Zur Geschichte des DOK-Festivals in Leipzig Die Neunziger | Quo vadis, Festival?
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25. Oktober 2019, 16:50 Uhr
Wie geht es mit dem Leipziger Fest für Dokumentarfilme weiter nach dem Ende der DDR? Zunächst geht es ums bloße Überleben - und das muss organisiert werden.
1990 - Filme der Welt für die Würde des Menschen
Dem Festival wird nach dem Ende der DDR von offizieller Seite Unterstützung zugesichert. Weitere Hilfe erfährt es von einem internationalen Förderkreis. Es ändert sich der offizielle Titel: Die "Internationale Leipziger Filmwoche für Dokumentar- und Animationsfilm" wird weiterhin von einem neuen Komitee geleitet, das sich gleichzeitig als Auswahlkommission versteht. Die neue Festivaldirektorin Dr. Christiane Mückenberger zieht zu ihrem Einstand das Fazit: "Zum Glück sind Hager und Herrmann, die bösen Engel des Festivals, entschwebt." Das neue Motto lautet "Filme der Welt - für die Würde des Menschen".
1991 - Umzug von Berlin nach Leipzig
Im Zuge der Verlegung der Festivaladministration von Berlin nach Leipzig wird auf Initiative von Manfred Müller, damals Landesrundfunkdirektor von Sachsen, die Leipziger Festival GmbH gegründet. Organisatorische und technische Schwierigkeiten bestimmen die Festivalvorbereitungen: Im Laufe der nächsten vier Jahre wird das Festival fünf Mal seine Räumlichkeiten in Leipzigs wechseln. Zur Eröffnungsveranstaltung besetzen Fans des Jugendprogramms "DT 64" die Bühne, um gegen die Abschaltung zu protestieren.
1992 - Sehen, was wirklich los ist
Ebenso wie der Slogan "Sehen, was wirklich los ist" etabliert sich als neuer Veranstalter die Dok-Filmwochen GmbH der Stadt Leipzig. Zu sehen gibt es in diesem Jahr auch zwei heiß diskutierte Filme: "Stau - Jetzt geht´s los" von Thomas Heise über rechtsradikale Jugendliche in Halle sowie Thomas Frickels "Der Störenfried" über Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz selbst verbrannte, als Appell an die Kirche, nicht weiter den Ungerechtigkeiten des DDR-Regimes zuzusehen. Vim van Leer wird als erster Gast aus Israel im Zeichen der verbesserten Beziehungen in die Jury eingeladen - aufgrund einer schweren Erkrankung kann er jedoch nicht anreisen.
1993 - "Stadtansichten" und Aufwertung der Animation
Die Retrospektive "Stadtansichten - Leipzig im Film" wird vom Publikum viel beachtet. Der Animationsfilm-Experte Otto Alder wird Chef der Sektion Animationsfilm, was eine erhebliche Aufwertung innerhalb des Festivals bedeutet. Das Interesse an dem Genre ist groß. Die Tauben des Festivals werden nun aus Meissener Porzellan von Jörg Danielczyk gestaltet.
1994 - Fred Gehler wird Festivaldirektor
Der Publizist und Filmemacher Fred Gehler wird Direktor des Festivals. Dazu schreibt der Journalist Stefan Reinecke: "Früher war man 'Fenster zur Welt', Ost-West-Treffpunkt, ein Ereignis. Seit 1989 verabschiedet sich das Festival eher qualvoll von der glorreichen Vergangenheit. Als das Publikum sich die Welt längst in RTL anschaute, wollte man noch immer von vergangener Größe nicht lassen und zerstörte so, was möglich war: intime Begegnungen zwischen Publikum, Kritikern, Machern. Der neue Leiter Fred Gehler setzt nun auf langsamen Wechsel... Das Programm war übersichtlicher und weniger wahllos als zuvor, das Klima freundlicher, die Diskussionen offener. Und das Kino voller. Leipzig muß bleiben, damit es sich ändert."
1995 - Neu gesehen - wiederentdeckt
Erstmals gibt es nun einen eigenständig ausgetragenen Wettbewerb für den Animationsfilm. Nach der Zuschauerflaute in den Jahren zuvor steigt die Besucherzahl auf 17.000 an (1993 lag sie noch bei 5.500 Besuchern). Die Retrospektive des Bundesarchiv-Filmarchiv widmet sich in diesem Jahr dokumentarischen Beispielen aus 100 Jahren des deutschen Films ("Neu gesehen - wiederentdeckt").
1996 - Zuschauerbefragung und Retrospektive zu Erwin Leiser
Die Universität Leipzig führt eine Befragung zur Zuschauerstruktur des Festivals durch. Die Zuschauer sind im Schnitt 30 Jahre, gebildet - über 80 Prozent hatten oder erwarben zum Befragungszeitpunkt einen Hochschulabschluss. Die Hälfte war schon einmal oder mehrmals beim Festival und urteilte "gemäßigt positiv" über Filmauswahl (Durchschnittsnote 2,5) und Festivalorganisation (2,3). Die Retrospektive in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin ehrt den kurz zuvor verstorbenen Erwin Leiser.
1998 - Junge Filme und eine endgültige Heimat
Unter dem Motto "Dialog mit einem Mythos" begeht das Festival das 40. Jubiläum mit einer umfangreichen Retrospektive der wichtigsten Preisträgerfilme der vergangenen Jahre, einem Symposium und vielen internationalen Gästen: Es kommen Richard Leacock (USA), Marceline Loridan-Ivens (Frankreich), Octavio Cortázar (Cuba), Marta Rodriguez (Kolumbien). Als Jurymitglieder wirken u.a. die deutschen Regisseurinnen Helke Misselwitz und Margarethe von Trotta mit. Zum Jubiläum neu eingeführt wird die Goldene Taube für ein Lebenswerk, die ersten gehen an Fernando Birri (Argentinien) und Santiago Alvarez (Cuba). Unvergessen bleibt die Besetzung des ehemaligen Filmkunsttheaters "Casino" aus Protest gegen den Verkauf des Gebäudes - des Dresdner Hofs. In einer spontanen Aktion wird eine Filmnacht im "Casino" organisiert.
1999 - "Eure Majestät" im Gewandhaus zu Leipzig
Die Premiere von Peter Schamonis "Majestät brauchen Sonne - Kaiser Wilhelm II" zur Eröffnung im Leipziger Gewandhaus wird kontrovers diskutiert. Das eingereichte Filmmaterial zeigt einen neuen Trend: Immer mehr Filme werden im Videoformat versendet und nicht mehr auf 16 oder 35mm. Und auch die Thematik der Filme scheint sich zehn Jahre nach den Montagsdemonstrationen stark verändert zu haben. Der Fokus richtet sich nun auf das Private, weniger auf das Weltgeschehen. Die Festivalleitung kämpft vor allem mit der finanziellen Situation. Um die Kosten für Saalmieten usw. bezahlen zu können, sucht man Sponsoren. 1999 umfasst die Auflistung derer und anderweitiger Förderer bereits 40 Namen.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: 28.10.2019 | 23:05 Uhr