14. März 2003: Agenda 2010 vorgestellt Gerhard Schröders Agenda 2010, Hartz IV und die neuen Montagsdemos
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15. März 2021, 14:53 Uhr
Es war eines der umstrittensten Reformprojekte der jüngeren deutschen Geschichte – Gerhard Schröders Agenda 2010, die er am 14. März 2003 vorstellte. Mit seiner Agenda wollte der sozialdemokratische Bundeskanzler Deutschland wieder international wettbewerbsfähig machen. Im ganzen Land kam es daraufhin zu gewaltigen Protestkundgebungen. Die Agenda-Gegner nannten sie ganz bewusst Montagsdemonstrationen; diese hatten 1989 das Ende der DDR eingeläutet.
Es war der 14. März 2003, als Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung zu einem großen Befreiungsschlag ausholte: "Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen." Das Programm dafür nannte Schröder Agenda 2010. Deren Ziele: die Verbesserung der "Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung" sowie den "Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung". Was das für die Bürger konkret bedeuten wird, lieferte der Sozialdemokrat gleich mit: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen."
Deutschland: der "kranke Mann Europas"?
Gerhard Schröder befand sich mit seiner rot-grünen Bundesregierung tatsächlich in einer schwierigen Situation. Die Zahl der Arbeitslosen war auf über fünf Millionen angestiegen, der "Aufbau Ost" verschlang Jahr für Jahr Milliarden und die wirtschaftlichen Wachstumsraten fielen eher bescheiden aus. Überdies mahnte Brüssel ständig, dass Deutschland die gesamtstaatliche Schuldenquote unbedingt unter die vereinbarte Drei-Prozent-Marke senken müsse. Deutschland galt vielen Wirtschaftswissenschaftlern daher als der "kranke Mann Europas". Schröder wollte mit seiner Agenda 2010 Deutschland wieder wettbewerbsfähiger machen. Dies sollte vor allem durch eine Steigerung der Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger Senkung der Arbeitskosten erreicht werden. Die Zauberwort hieß "Flexibilisierung" des Arbeitsmarktes.
Peter Hartz lieferte Gerhard Schröder das Konzept
Das Konzept zur Deregulierung des Arbeitsmarktes lieferte Gerhard Schröder der ehemalige VW-Manager Peter Hartz. Eckpunkte der Agenda 2010 im Bereich Arbeit und Beschäftigung waren die Flexibilisierung von Leiharbeit und Kündigungsschutz, Erleichterungen für geringfügige Beschäftigung sowie mehr Flexibilität für Existenzgründer, Stichwort "Ich-AG". Das "vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" – später auch als Hartz IV bezeichnet – erlangte schließlich traurige Berühmtheit. In dem Gesetz war fixiert, dass das Arbeitslosengeld II das bislang praktizierte System von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ablösen soll.
Gerhard Schröders Agenda 2010 polarisierte
Die Agenda 2010 polarisierte wie kaum ein anderes Reformvorhaben in der jüngeren Vergangenheit. Die CDU sowie weite Teile der Wirtschaft begrüßten sie als einen ersten Schritt zur wirtschaftspolitischen Deregulierung und zur Erneuerung der Sozialsysteme. Die Arbeitnehmer freilich lehnten die Agenda 2010 umgehend als unsozial und unausgewogen ab. DGB-Chef Michael Sommer hatte gar noch versucht, die Bundesregierung umzustimmen. Ohne Erfolg: "Der Bundeskanzler will die Politik des Sozialabbaus fortsetzen", resümierte Sommer damals enttäuscht. "Und wir sagen, das ist der falsche Weg, er führt nicht aus der Krise, er bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit. Er bringt die Wirtschaft auch nicht voran, sondern führt nur zu mehr sozialer Ungerechtigkeit, übrigens auch zu mehr Altersarmut." Als im November 2005 Angela Merkel Schröders Amt übernahm, sagte sie freilich in ihrer Regierungserklärung: "Ich möchte Bundeskanzler Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat."
Die neuen Montagsdemonstrationen in Deutschland
Anfang 2004 begannen in zahlreichen deutschen Städten regelmäßige Demonstrationen gegen die Hartz-Gesetze und den von vielen befürchteten Sozialabbau. In aller Regel fanden die Kundgebungen montags statt. Die Veranstalter der Hartz IV-Proteste knüpften bewusst an die Tradition der Montagsdemonstrationen in Leipzig an, die 1989 das Ende der DDR eingeläutet hatten. In Leipzig selbst gab es ab dem 29. März 2004 wöchentliche Montagsdemos. Auf ihre Plakate schrieben die Demonstranten: "Weg mit der Agenda 2010!", "Gegen Hartz und Armut", "Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir!" oder "Warum sind wir heute hier? Weg mit Hartz IV!" Auf einer zentralen und vom DGB gestützten Kundgebung am 1. November 2003 in Berlin kamen etwa 100.000 Teilnehmer zusammen. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste gegen das Hartz IV-Reformpaket am 30. August 2004. In etwa 200 deutschen Städten gingen mehr als 200.000 Menschen auf die Straße. Danach nahmen die Teilnehmerzahlen jedoch wieder kontinuierlich ab. Die Proteste verhallten mehr oder weniger ungehört, die Hartz-Gesetze waren beschlossene Sache. In die Schlagzeilen gerieten die Montagsdemos dann eigentlich nur noch, wenn Neonazis die Anti-Hartz-Proteste gelegentlich als Bühne nutzten.
Der Streit um den Begriff Montagsdemonstration
Die Verwendung des Begriffs Montagsdemonstration setzte sofort eine erregte Debatte in Gang. Die einstige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld sprach den Demonstranten das Recht ab, diesen Begriff verwenden zu dürfen, denn schließlich sei es damals "um Freiheit" gegangen. Wolf Biermann sprach von einem "Etikettenschwindel", Joachim Gauck meinte, es sei "töricht und geschichtsvergessen", diesen Namen zu verwenden. Christian Führer, Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, betonte dagegen: "Es kann doch nicht nach dem Motto gehen: Wir begrüßen, dass Ihr gegen die Kommunisten auf die Straße gegangen seid, aber jetzt habt Ihr die Klappe zu halten." Auch 60 einstige DDR-Bürgerrechtler stärkten den Demonstranten in einer "Erklärung" den Rücken: "Wir protestieren gegen Hartz IV. Wir sind einverstanden mit der Wiederbelebung der Montagsdemonstrationen. Es ging und geht um Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Mündigkeit, Menschenwürde und Freiheit." Ganz ähnlich sah das Matthias Platzeck, SPD-Ministerpräsident in Brandenburg: "Wenn Menschen in Bedrängnis sind, dann müssen sie das auch zum Ausdruck bringen können." Überdies sei Hartz IV, so Platzek weiter, für westdeutsche Verhältnisse gemacht und für viele Menschen im Osten eine Zumutung.
Was hat die Agenda 2010 gebracht?
Die Agenda 2010 und eine insgesamt positive wirtschaftliche Entwicklung trugen tatsächlich dazu bei, dass sich die Zahl der Arbeitslosen innerhalb weniger Jahre beinahe halbierte und die deutsche Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangte. Nicht wenige Experten sprechen daher von einem Erfolg der Schröderschen Agenda. Doch vor allem linke Politiker und Gewerkschafter verweisen auf die düsteren Seiten der Agenda 2010, denn die Deregulierung des Arbeitsmarktes schuf große Probleme für viele Arbeitnehmer. Durch die Hartz-Gesetze wurde etwa die Möglichkeiten für Leiharbeit ausgeweitet. Seitdem können Leiharbeitsfirmen Mitarbeiter an andere Unternehmen entleihen. Zeitgleich ist der Druck auf Arbeitssuchende enorm gestiegen, jede Arbeitsstelle anzunehmen, auch wenn die Bedingungen mies sind. Armut trotz Arbeit hat zugenommen. Trotz Mindestlohn existiert in Deutschland ein riesiger Niedriglohnsektor. Ganz zweifellos hat die Agenda 2010 einen gewissen Anteil daran, dass die Schere zwischen den Armen und Reichen im Lande immer größer wurde.
"Zukunftsprogramm" der SPD zur Bundestagswahl 2021: Hartz IV abschaffen
Spätestens ab 2013 war es mit den Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 vorbei. Nur noch ein Häuflein Unentwegter fand sich zu den Kundgebungen ein, ehe sie schließlich ganz einschliefen.
Die SPD freilich hatte unter dem Reformprogramm in den vergangenen fünfzehn Jahren erheblich zu leiden. Es wurde zur großen Bürde für die Sozialdemokraten. Nicht nur Parteilinke forderten stets die Abschaffung der Agenda 2010, vor allem der als unsozial empfundenen Arbeitsmarktreformen. Nun plant die SPD wohl tatsächlich einen Abschied von Hartz IV. In ihrem "Zukunftsprogramm" zur Bundestagswahl im Herbst verkünden die Sozialdemokraten, statt Hartz IV solle es fortan ein Bürgergeld geben. Der "Respekt vor der Arbeit" solle damit jedenfalls wieder gestärkt werden.
Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder hingegen pries seine Agenda 2010 stets unverdrossen als wegweisend und unvermeidlich. Sie habe doch immerhin auch einen "Mentalitätswechsel" in Deutschland bewirkt. Es würde nun nicht mehr automatisch nach dem Sozialstaat gerufen.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell | 01. März 2021 | 19:30 Uhr