Strom und Erdöl: Industrialisierung Sibiriens
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02. Dezember 2021, 10:52 Uhr
Der grausamen Industrialisierung Sibiriens durch Stalin folgte eine zweite Etappe unter Chruschtschows in den 50-er Jahren. Nun bekamen auch abgelegenste Dörfer Strom und Erdölförderanlagen wurden bei Eiseskälte gebaut.
Ein Land der Hoffnung und der kommunistischen Verheißung, ein sagenhaftes Eldorado, eine Art neues Amerika – das alles war Sibirien für die Russen in den durchaus euphorischen Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn in der fast menschenleeren und schier unendlichen Wildnis Sibiriens fand sich alles, was die UdSSR für ihre Industrie benötigte, in unvorstellbarem Überfluss: Erdöl, Ergas, Kohle, Erz, Zink, Kupfer, Molybdän, Platin, Nickel, Gold und Diamanten; dazu Wasserkraft für 1,5 Billionen Kilowattstunden Elektrizität und die Hälfte des Weltvorrats an Holz. "Sibirien ist ein Eisschrank, vollgestopft mit Schätzen", rief KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow Mitte der fünfziger Jahre begeistert aus und forderte: "Lasst uns den Eisschrank knacken!" Und so geschah es auch: Unter Chruschtschows Ägide wurde Sibirien in den fünfziger Jahren zum zweiten Mal entdeckt. Industriebauten und neue Städte entstanden, abgelegene Dörfer bekamen Strom und Geologen entdeckten Erdöllagerstätten in gigantischen Ausmaßen.
Millionen Strafgefangener in Sibirien
Die Industrialisierung Sibiriens hatte noch gar nicht lange zurückgelegen. Sie war tatsächlich erst unter Stalins Herrschaft in Angriff genommen worden. Und zwar auf denkbar grausame Weise: Millionen von Menschen ließ Stalin vom Ende der 1920er Jahre an in den kommenden zwei Jahrzehnten in die Zwangsarbeitslager in die schier endlosen Weiten Sibiriens deportieren: "Konterrevolutionäre", "Trotzkisten", "Großbauern", gewöhnliche Kriminelle, Kriegsgefangene, Balten, Japaner, Baptisten sowie ganze Völkerschaften wie etwa die Wolgadeutschen.
Brot und Kohlsuppe
Die Häftlinge bauten unter der Leitung der "Gulag", der "Zentralen Lagerverwaltung der Geheimpolizei", Straßen, verlegten Eisenbahnschienen, gruben nach Erz und Kohle und errichteten erste Fabriken und Wasserkraftwerke. Den Staat kostete das alles fast nichts: nur den Sold für die Bewacher und die nötigste Verpflegung der Häftlinge: Brot und Kohlsuppe. Unterkünfte hatten sie sich selbst zu errichten. Einen regelrechten Boom verzeichnete Sibirien mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Als die deutsche Wehrmacht 1941 in die UdSSR einmarschierte, wurden eilends etliche Industriebetriebe aus dem europäischen Teil der UdSSR ins weit entfernte Sibirien gebracht und dort wieder aufgebaut.
Auflösung des "Gulag"
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges waren die meisten der nach Sibirien evakuierten Industriebetriebe wieder an ihre ursprünglichen Standorte in der Sowjetunion zurückverlegt worden. Für sibirische Städte wie Omsk oder Nowosibirsk bedeutete das einen herben Rückschlag. Zudem wurden nach dem Tod Stalins 1953 im Rahmen einer Amnestie Millionen von Strafgefangenen entlassen, der „Gulag“ aufgelöst. In Sibirien musste man die Wirtschaft nun zügig umstellen – auf Zwangsarbeiter konnten sich fortan nicht mehr gestützt werden. Nur noch in Ausnahmefällen wurden Strafgefangene nach Sibirien verbannt. Die großen Barackenstädte des „Gulag“ in Sibirien standen von nun an leer und verfielen.
Keine Arbeitskräfte in Sibirien
Eines der größten Probleme bei der Industrialisierung Sibiriens bestand - neben den ungeheuren Ausmaßen des Riesenreichs und den extremen klimatischen Bedingungen – im eklatanten Mangel an Arbeitskräften. Die Staatspartei baute zunächst auf Enthusiasmus und Appelle, um Facharbeiter nach Sibirien zu locken, schließlich setzte sie verstärkt auf materielle Anreize. Und auch der Komsomol, die Jugendorganisation der KPdSU, beteiligte sich am gewaltigen Aufbauprojekt – Jahr für Jahr schickte er Hunderttausende junge Leute als sogenannte "Jugendbrigaden" in die unwirtliche Einöde Sibiriens. Die Aufbauhelfer schliefen in Zelten oder zugigen Holzbaracken und nicht selten teilten sich mehrere Jugendliche eine einzige Matratze – sie schliefen in wechselnden Schichten.
"Großbauten des Sozialismus"
Die Vorhaben bei der Industrialisierung Sibiriens waren allesamt ausgesprochen ehrgeizig. Entlang der mächtigen Flüsse Angara und Jenissei wurde beispielsweise in den 1950er Jahren mit dem Bau mehrerer Staudämme und Wasserkraftwerke begonnen. In der Nähe von Bratsk entstand so etwa binnen dreizehn Jahren das seinerzeit größte Wasserkraftwerk der Welt, nur wenig später wurde ein noch größeres in Krasnojarsk eingeweiht. Die neu entdeckten Gas- und Erdöllagerstätten im westlichen Sibirien wurden nach und nach erschlossen und es wurde Ende der sechziger Jahre damit begonnen, die riesigen Braunkohlenvorkommen abzubauen. Schließlich folgten weitere "Großbauten des Sozialismus": der Bau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) und die legendär gewordene Erdgasleitung "Drushba".
Über dieses Thema berichtet der MDR in MDR Kultur 29.04.2017 | 09.05 Uhr