Rechtsextremismus in Thüringen Rechter Terror in Mechterstädt
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24. Juni 2022, 10:18 Uhr
Das thüringische Dorf Mechterstädt wird vor 100 Jahren zum Schauplatz rechtsextremistisch motivierter Morde und eines der größten Justizskandale der frühen Weimarer Republik. Auslöser war eine Anweisung des Berliner Reichswehrministers Gustav Noske zur Bildung paramilitärischer Zeitfreiwilligen-Einheiten. Diese Maßnahme war zum Schutz der Republik gedacht, doch etwa 1.150 Marburger Studenten nutzen sie, um sich zu organisieren und auf eine Gelegenheit zu warten, an einem Umsturz zur Abschaffung der Demokratie teilzunehmen.
Die Geschichte beginnt in Marburg in Hessen. Die Studenten der dortigen Universität sind mehrheitlich Gegner der Weimarer Demokratie. Viele von ihnen haben im Ersten Weltkrieg als Offiziere gekämpft. Die Niederlage von 1918 und die darauf folgende Novemberrevolution in Deutschland empfinden sie als Schmach, die gerächt werden sollte.
Waffen aus Reichswehrbeständen
Im Herbst 1919 gibt der Berliner sozialdemokratische Reichswehrministers Gustav Noske die Anweisung, paramilitärische Zeitfreiwilligen-Einheiten im ganzen Land zu bilden. Diese Maßnahme, die eigentlich zum Schutz der Republik gedacht war, nutzen etwa 1.150 Marburger Studenten, meist aus schlagenden Verbindungen, um sich im "Studentenkorps Marburg", kurz "StuKoMa" zu organisieren. Sie bekommen Waffen aus Reichswehrbeständen, führen militärische Übungen durch und warten auf eine Gelegenheit, an einem Umsturz zur Abschaffung der Demokratie teilzunehmen.
Am 13. März 1920 ist es soweit. Die Generäle Walther von Lüttwitz und Erich Ludendorff putschen in Berlin. Ihre "Brigade Erhard" marschiert ins Regierungsviertel und zwingt den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur Flucht. Der deutsch-nationale Beamte Wolfgang Kapp wird als neuer Kanzler eingesetzt.
Freikorps gegen die Republik
Das "StuKoMa" stellt sich sofort auf die Seite der Putschisten, wählt den ehemaligen Reichswehroffizier und völkischen Schriftsteller Bogislav von Selchow zu seinem Anführer und erarbeitet einen Plan zur militärischen Übernahme der Stadt Marburg. Doch bevor es zur Ausführung dieses Planes kommt, wird der Kapp-Putsch am 17. März niedergeschlagen. Von Selchow schreibt enttäuscht in sein Tagebuch:
Schwarz-rot-gold, die Juden, die Kapitalisten, die Liberalisten, die Versailles-Unterzeichner, diese ganze elende knechtische Brut hatte gesiegt.
Dann kommt aus Thüringen das Gerücht, dort würden Arbeiterwehren als "rote Armeen" die Gegend unsicher machen und einen Putsch von links vorbereiten. Die Studenten des "StuKoMa" sehen ihre Chance, jetzt doch noch in den Kampf zu ziehen gegen alles, was sie verachten. Bewaffnet und in Uniform brechen ungefähr 2.000 Mann am 20. März in Richtung Eisenach und Gotha auf.
Arbeiter entwaffnen Kapps Unterstützer
Tatsächlich haben sich im sozialdemokratisch regierten Thüringen Arbeiterwehren zur Bekämpfung des Kapp-Putsches gebildet. Die von Sozialdemokraten der linken USPD geführte Regierung in Gotha ruft am 19. März dazu auf, Anhänger des niedergeschlagenen Kapp-Putsches zu entwaffnen. Diesem Aufruf folgen auch ungefähr 50 Arbeiter aus der Bad Thal bei Ruhla. Sie ziehen in die Nachbardörfer, dringen in die Häuser von mutmaßlichen Kapp-Anhängern ein, beschlagnahmen – gegen Quittung! - deren Waffen und liefern sie beim Bürgermeister in Thal ab.
"Auf der Flucht erschossen"
Als am 24. März 60 Abgesandte des "StuKoMa" mit zwei LKWs und mehreren Maschinengewehren in Bad Thal ankommen, um die angeblichen "Rädelsführer des spartakistischen Aufstandes" festzunehmen, sind diese längst zu ihren Familien nach Hause zurückgekehrt. Die "StuKoMa"-Leute durchkämmen den Ort und nehmen ungefähr 40 Arbeiter fest, von denen 25 nach einem Verhör wieder freigelassen werden. Die verbleibenden 15 bringen sie ins benachbarte Sättelstädt und sperren sie über Nacht im Spritzenhaus der dortigen Feuerwehr ein. Frühmorgens am nächsten Tag lässt man die Gefangenen zum Transport antreten. Angeblich will man sie nach Gotha führen und vor ein Militärgericht stellen. Doch dann fallen Schüsse im dichten Morgennebel. Wenige Stunden später verbreitet sich die Nachricht: Alle 15 sind auf der Straße von Sättelstädt nach Mechterstädt erschossen worden. "Auf der Flucht", wie die Studenten vom "StuKoMa" später aussagen.
Weimarer Gesinnungsjustiz
Im Juni 1920 werden 14 tatbeteiligte Studenten wegen Totschlags vor ein Marburger Kriegsgericht gestellt und – freigesprochen. Im Dezember findet die Berufungsverhandlung vor einem Schwurgericht in Kassel statt und zwei Jahre später das Revisionsverfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig. Am Ende kommen alle Täter ungeschoren davon. Ein Fall von Gesinnungsjustiz, wie sie in der Weimarer Republik häufig vorkommt. Staatsanwälte und Richter gehörten zum Teil den gleichen Studentenverbindungen und rechtsextremen Bünden an, wie die Angeklagten. Ein Foto von den Leichen, das bewies, alle waren durch Nahschüsse in Hinterkopf oder Nacken hingerichtet worden, verschwindet aus den Gerichtsakten. Belastende Zeugenaussagen werden unterschlagen oder nachträglich in den Prozessunterlagen gefälscht.
Kurt Tucholsky: Marburger Studentenlied
Kurt Tucholsky, der als Journalist die Prozesse beobachtete, verfasste für die Weltbühne das bitterböse "Marburger Studentenlied", in dem es heißt:
Uns tut kein deutscher Richter nichts
und auch kein Staatsanwalte.
Die Schranken unsres Kriegsgerichts
der liebe Gott erhalte!
Seit dem 1. Mai 1921 erinnert auf dem Friedhof in Thal, wo die ermordeten Arbeiter beigesetzt wurden, ein Gedenkstein an die Morde von Mechterstädt. Erst im April 2019 - beinahe ein Jahrhundert nach den Ereignissen - wurde auch an der alten Universität in Marburg eine Bronzetafel eingeweiht.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Das Massaker von Mechterstädt | 23. März 2022 | 22:00 Uhr