Die Frau, die drei Romanows um den Finger wickelte
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21. August 2020, 13:01 Uhr
Matilda Kschessinskaja war eine russische Primaballerina polnischer Abstammung, die nicht nur vom Publikum, sondern auch von der Zarenfamilie geliebt wurde – und das auch im Wortsinne. Drei männliche Romanows wetteiferten um ihre Gunst, darunter der spätere Zar Nikolaus II.
Sie ist noch nicht einmal 18, als sie ihren bedeutendsten Liebhaber kennenlernt, den späteren Zaren Nikolaus II. Dessen Vater, Alexander III., fädelt die Bekanntschaft gezielt ein, weil sein schüchterner Sohn noch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht hat. Ungünstig für den Thronfolger, der für den Fortbestand der Dynastie sorgen und einen Erben zeugen soll. Und so kommt Alexander III. auf die Idee, sein Sohnemann könnte doch in den Armen einer jungen Ballerina ein wenig "üben". Matilda soll aus dem jungen, unbedarften Nikolai einen "richtigen Mann" machen.
"Wo ist denn die Kschessinskaja?!"
Angebahnt wird die Bekanntschaft 1890 bei der Abschlussvorstellung eines Jahrgangs der Kaiserlichen Theaterschule. Kschessinskaja soll der anwesenden Zarenfamilie mit einigen weiteren viel versprechenden Schülerinnen vorgestellt werden. Eigentlich ist sie als Letzte an der Reihe, doch der Zar verlangt gleich zu Beginn lautstark nach ihr: "Wo ist denn die Kschessinskaja?!" Als die Angesprochene vor ihm erscheint, wünscht er ihr, sie möge die Zierde und der Stolz des russischen Balletts werden, und lässt sie an seinem Tisch gegenüber seinem schüchternen Sohn Platz nehmen. Mit einem sanften Lächeln ermahnt er die beiden noch, nicht allzu sehr zu flirten.
Aus einem Flirt wird Leidenschaft
Doch die Dinge geraten außer Kontrolle und aus dem Flirt wird eine lodernde Leidenschaft. Kschessinskaja schreibt Jahrzehnte später, sie habe sich sofort in die blauen Augen des Thronfolgers "mit dem bezaubernd freundlichen Blick" verliebt. Der spätere Monarch erwidert das Gefühl: "Ich bin wie benommen. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder zu kommen", schreibt er nach einem Besuch bei der hübschen Ballett-Tänzerin. Es folgen noch viele weitere Besuche, meist geheim und nachts.
Beginn einer großen Karriere
Die Bekanntschaft mit dem Zarewitsch markiert zugleich den Beginn einer großen Karriere. Schon in ihrer ersten Saison tritt Kschessinskaja in 22 Ballettinszenierungen und 21 Opernaufführungen auf – für eine Debütantin ein absoluter Rekord. Es dauert nicht lange, bis sie Solistin des weltberühmten Mariinski-Theaters wird, dessen Repertoire fortan ganz auf sie zugeschnitten wird. Peter Tschaikowski spielt ihr bei den Proben auf und verspricht, das nächste Ballett eigens für sie zu schreiben. Kschessinskajas Position ist mit der Zeit so stark, dass sie sich sogar den Anweisungen des Theaterdirektors offen widersetzen und in selbst entworfenen Kostümen auftreten kann. Auch gelingt es ihr, bereits unterschriebene Engagements anderer Ballerinen auflösen zu lassen, wenn sie der Meinung ist, dass die Rolle eigentlich ihr zusteht. Wo immer sie auch auftaucht, genießt sie uneingeschränkten Star-Status. Selbst die Eisenbahnbediensteten fressen ihr aus der Hand. Sie setzen für sie den Fahrplan außer Kraft und verzögern die Abfahrt des internationalen Fernzugs nach Paris, weil die Ballerina etwas vergessen hat und den Diener noch schnell etwas aus ihrer Villa holen lässt.
Beziehungen und Talent
Die Ballettliebhaber werden zu ihrer Zeit in zwei Lager geteilt: die "Kschessinisten" und die "Anti-Kschessinisten". Doch es irrt, wer glaubt, dass sie ihren kometenhaften Aufstieg nur der (körperlichen) Nähe zum Zarenhaus verdankt. Selbst ihre Feinde gestehen, dass sie Talent hat und schwer arbeitet. Jeden Tag trainiert sie stundenlang und hält strenge Diät. Und sie bildet sich fleißig fort – selbst als Star nimmt sie noch Unterricht bei italienischen Ballettmeistern, die damals als die Besten ihres Fachs gelten. Als erste russische Ballett-Tänzerin schafft sie 32 Fouetté hintereinander - äußerst anspruchsvolle Tanzschritte, bei denen die Tänzerin rasche Drehungen auf einem Bein vollführt, während das andere wie eine Peitsche um den Körper schwingt.
Vielleicht helfen auch die guten Gene, denn musikalisches Talent wurde ihr schon in die Wiege gelegt. Kschessinskajas Großvater trat als Sänger am Hofe des letzten polnischen Königs Stanislaus August Poniatowski auf – der Monarch soll ihn "meine Nachtigall" genannt haben. Ihre Eltern und zwei ihrer Geschwister waren ebenfalls erfolgreiche Tänzer und der Vater wurde am Ende sogar Ehrenbürger von Sankt Petersburg.
Kein Happy End
Der Liebesbeziehung mit Nikolaus II. indes ist kein Happy End beschieden. Eine Hochzeit ist wegen des Standesunterschieds undenkbar. Nikolaus kennt seine Pflichten gegenüber Dynastie und Vaterland und verlobt sich 1894 mit der deutschen Prinzessin Alix von Hessen-Darmstadt, einer Enkelin Queen Victorias. Kschessinskaja erfährt aus der Presse vom Ende ihrer Beziehung mit "Niki", wie sie den Zarensohn liebevoll nennt. Doch auch danach ist Nikolaus ihr gewogen, lässt regelmäßig Geschenke schicken und unterstützt seine einstige Favoritin diskret, wenn sie es braucht.
Geliebte anderer Romanows
Die Liebschaft mit Nikolaus II. bleibt aber nicht das letzte Engagement Kschessinskajas im Hause Romanow. Nach ihrer Trennung übergibt der künftige Zar seine Geliebte in die Obhut des Großfürsten Sergej Michailowitsch, der – obwohl eigentlich Nikolaus' Onkel – ein Jahr jünger ist. Der Großfürst kümmert sich so leidentschaftlich um die junge Frau, dass sie schon bald ein Liebespaar sind. Sergej liest ihr jeden Wunsch von den Lippen ab, so teuer er auch sein möge. Und obwohl die Ballerina ihn nach eigener Aussage aufrichtig liebt, bleibt er nicht der letzte Romanow in ihrem Leben.
Wetteifern um die Gunst der Tänzerin
Pünktlich zur Jahrhundertwende 1900 taucht Großfürst Andrej Wladimirowitsch auf – sieben Jahre jünger als Mathilda. Die Ballerina unterhält ein Verhältnis mit beiden Männern gleichzeitig. Als sie 1902 den Sohn Wladimir zur Welt bringt, streiten beide um die Vaterschaft. Andrej erkennt den Jungen an – wer der biologische Vater ist, bleibt allerdings bis heute ungeklärt. Beide Liebhaber überhäufen Kschessinskaja mit teurem Schmuck von Fabergé und Cartier. Die billigen Schmuckimitate, die sie zu Beginn ihrer Karriere auf der Bühne trägt, kann sie nun gegen echte Perlen und Brillanten tauschen. Die beiden Romanows wetteifern um die Gunst ihrer Angebeteten: Andrej kauft ihr ein Haus in der Provence, Sergej schenkt ihr eine Datscha in Strelna bei Petersburg. Dort veranstaltet die Primaballerina ausschweifende Geburtstagspartys für einige Hundert Gäste, die mit einem eigens angemieteten Sonderzug anreisen.
Rauschende Feste
1906 lässt sich die Kschessinskaja auf Kosten von Großfürst Sergej in bester Lage mitten in Sankt Petersburg eine Villa bauen, deren gesamte Ausrüstung bis zum geringsten Detail aus Frankreich importiert wird. In ihrem dortigen Salon sind Zar Nikolaus II. und mehrere Großfürsten häufige Gäste. Der sagenhafte Reichtum der Primaballerina, die offiziell "nur" 5.000 Rubel verdient, weckt Neid und sorgt für Gerüchte. Die teuren Geschenke ihrer Liebhaber würden aus dem Militärhaushalt des russischen Imperiums finanziert, munkelt man – was zu Russlands Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 beigetragen haben soll. Ein anderes Gerücht: Im Salon der Tänzerin werden in großem Stil Bestechungsgelder überreicht. Wer die kaiserliche Armee beliefern soll, muss Zugang zu hoch gestellten Mitgliedern des Herrscherhauses finden, doch es schickt sich nicht, den hochgeborenen Herren einfach so einen Umschlag in die Hand zu drücken - also tut man das – dem Vernehmen nach – am Kartentisch bei der Kschessinskaja. Ein gewisser Prozentsatz verbleibe dann als Provision bei der Gastgeberin.
Klage gegen Lenin
Das glanzvolle Leben erfährt im Revolutionsjahr 1917 ein unerwartetes Ende. Zunächst bringt die Februarrevolution bürgerliche Kräfte an die Spitze des russischen Riesenreichs. Kschessinskajas Stadtvilla wird enteignet, die Bolschewiki, die noch nicht an der Macht, sondern eine von vielen Parteien sind, richten dort ihren Stab ein. Vom Balkon des Hauses hält Lenin nach seiner Rückkehr aus dem Exil eine Ansprache ans Volk. Kschessinskaja verliert die Raison nicht, verklagt die bolschewistische Führung – darunter Lenin – auf Herausgabe des Eigentums. Die Richter geben ihr Recht, doch in den Wirren der Revolutionszeit schert sich keiner um Gerichtsurteile.
Flucht vor der Oktoberrevolution
Wenige Monate später kommt die Oktoberrevolution. Kschessinskaja muss aus der Heimat fliehen. Mit einem ihrer Liebhaber, Großfürst Andrej, und dem gemeinsamen Sohn gelangt sie über Italien nach Frankreich. In Cannes heiraten die beiden. Als nicht standesgemäße Gattin hat die Tänzerin natürlich kein Anrecht auf den Titel einer Großfürstin, doch die Romanow-Familie erkennt sie mit der Zeit an. Die verwitwete Kaiserin-Mutter Maria gratuliert dem Paar zur Hochzeit und 1926 verleiht der Exil-"Zar" Kyrill Wladimirowitsch Romanow seiner Schwägerin den Titel Fürstin Krasinska und wenige Jahre später der Erlauchtigsten Fürstin Romanowska-Krasinska. Die gealterte Schönheit lebt vom Ausverkauf geretteter Kleinodien und gründet später, als diese zur Neige gehen, eine erfolgreiche Ballettschule in Paris.
Ihr anderer Liebhaber, Großfürst Sergej, wird in Alpajewsk von den Bolschewiki ermordet – mit anderen Romanows in einen Schacht geworfen und mit Pistolenschüssen und Granaten "erledigt". Als man später die Leiche findet, hält der Großfürst ein Medaillon mit dem Bildnis der Kschessinskaja in der Hand. Die Ballerina selbst wird fast 100 Jahre alt und stirbt am 6. Dezember 1971 in Paris.
Sagenumwobene Reichtümer
Über ihre Reichtümer kursieren übrigens bis heute Legenden, denn nur einen kleinen Teil ihre Pretiosen soll sie ins französische Exil gerettet haben. Ein Großteil soll in Russland verblieben sein, zunächst in der Obhut des später ermordeten Großfürsten Sergej. Danach verliert sich die Spur der Schätze. In Russland beflügeln die Kostbarkeiten der Kschessinskaja die Phantasie von Schatzjägern genauso wie hierzulande das Bernsteinzimmer und der Goldzug der Nazis. In ihrer prachtvollen Villa in Sankt Petersburg befindet sich heute ein Museum der Revolutionsbewegung.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Brisant | 09.10.2017 | 17:00 Uhr