Der Fotograf Karl Heinz Mai Im Rollstuhl durch das Nachkriegs-Leipzig

14. Juli 2020, 11:36 Uhr

Im Krieg verliert Karl Heinz Mai beide Beine, ist danach auf den Rollstuhl angewiesen. Doch er will eigenständig bleiben und beginnt zu fotografieren. Es entsteht eine einzigartige Dokumentation der Entwicklung Leipzigs nach dem Krieg. Mai, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, verarbeitet dadurch seine Erlebnisse und hinterlässt seinem Sohn Karl Detlef eine Mahnung.

Meinem Sohn Detlef, damit er sich selbst ein Bild von der Sinnlosigkeit des Krieges machen kann und daraus lernt, Menschenwerte zu erhalten statt zu vernichten.

Diese Widmung steht in einem der vielen Fototagebücher von Karl Heinz Mai. Sie ist eine Mahnung und ein schweres Erbe, das Karl Detlef Mai seit dem Tod seines Vaters im Jahr 1964 begleitet.

Nachkriegsgeschichte

Rund 25.000 Aufnahmen und 500 Diapositive umfasst Mais Nachlass. Bilder aus knapp 20 Jahren deutscher Nachkriegsgeschichte. Dass er einmal einer der wichtigsten Fotografen seiner Zeit werden sollte, danach sah es zunächst nicht aus. Karl Heinz Mais Leben beginnt eigentlich ganz gewöhnlich. Er wird am 28. Februar 1920 in Leipzig geboren, geht hier zur Schule, macht eine Ausbildung zum Kaufmannsgehilfen. Er ist kaum fertig, da wird er eingezogen, muss an die Front. Da ist er 19 Jahre alt.

Karl Heinz Mai wird im Krieg schwer verwundet

Der junge Soldat kommt nach Polen, nach Tschechien und schließlich nach Russland, wo er schwer verwundet wird. Eine Handgranate zerstört ihm beide Beine. Nach zwei Jahren im Lazarett darf er 1943 wieder nach Hause. Von nun an ist alles anders. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen, bekommt einen sogenannten Selbstfahrer – ein Gefährt mit drei Rädern, das über zwei Armhebel fortbewegt wird.

In seinem Beruf arbeiten kann er nicht mehr. Überhaupt tobt in Deutschland noch der Krieg und so beginnt Mai, vom Zimmerfenster aus, das Geschehen draußen zu fotografieren - zunächst in Niederwiesa, wo die in Leipzig ausgebombte Familie zu diesem Zeitpunkt untergebracht ist. Die endlosen Flüchtlingstrecks, Panzer der Alliierten, die zu Ende des Krieges durch Mitteldeutschland rollen. "Andere haben geschrieben oder gedichtet. Mein Vater hat fotografiert", sagt Karl Detlef Mai. "Das war seine Art der Bewältigung der Kriegserlebnisse."

Im Rollstuhl durch die Trümmer zu fahren, war Schwerstarbeit

Ein Film pro Woche, mehr konnte sich Mai nicht leisten. Schließlich war nicht nur der Film teuer, sondern vor allem auch die Entwicklung der Bilder. "Er hatte nicht die Möglichkeit, sich eine Dunkelkammer einzurichten. Und so gab er die Filme immer ins Labor. Dabei lernte er auch meine Mutter kennen, die im selben Haus arbeitete", so Karl Detlef Mai. Die beiden heiraten, 1949 kommt Sohn Detlef zur Welt. Keine Selbstverständlichkeit. "Mein Vater hatte viele Freundinnen, habe ich im Nachhinein herausgefunden. Die fanden ihn alle ganz toll, weil er so lieb war. Aber einen ohne Beine zu heiraten, das ging damals nicht." Nur seine Mutter, die habe sich daran nicht gestört. Die habe immer gesagt: "Das ist mein Mann."

Siegesdenkmal (abgerissen 1946) vor der zerstörten Nordseite des Marktes, 1945, Leipzig, Sachsen, DDR
Der Leipziger Markt 1945 Bildrechte: Karl Heinz Mai / Fotothek Mai

Karl Heinz Mai versucht Zeit seines Lebens, seine Eigenständigkeit zu bewahren. Lässt es das Wetter zu, schnappt er seine Aktentasche, verstaut seine Kamera darin, packt alles unter die Plane seines Selbstfahrers und rollt los. Vier Kilometer sind es jedes Mal von der Wohnung der Familie in der Leipziger Dantestraße bis in die Innenstadt. Bus oder Bahn kann Mai nicht nutzen. Manchmal fährt er sogar über Land. "Er hat dann zum Teil lang an einer Bahnbrücke gewartet, bis jemand vorbeikam und ihn auf die andere Seite schieben konnte."

Mais Fotos sind dokumentarisch, aber nicht neutral

Was ihm unterwegs interessant erscheint, fotografiert Mai. Kinder, die auf Trümmern spielen, Kriegsheimkehrer, die am Bahnhof ankommen, Bettler, denen man die Strapazen des Wehrdienstes ansieht. Mais Bilder sind untersichtig, weil sie aus dem Rollstuhl heraus aufgenommen sind. Sie wirken immer ein bisschen naiv, wie durch die Augen eines Kindes. Sie sind dokumentarisch, aber keineswegs neutral. Mai hatte einen klaren Fokus auf Alltagsszenen, zufällig aufgenommen, nicht gestellt. Sie sollten die Atmosphäre der Nachkriegszeit in der Stadt einfangen, wie etwa den Schwarzmarkt an der Richard-Wagner-Straße. Niemand nimmt Notiz von dem Mann im Rollstuhl.

Andere "Motive" spricht Mai ganz bewusst an, die Frauen etwa, die versuchen, der nicht kleiner werdenden Schuttberge in den Straßen Herr zu werden. Sie posieren in Arbeitskleidung mit Schippe vor ihm, den Blick in die Kamera gerichtet, trotz der Strapazen ein Lächeln auf den Lippen.

Und so dokumentiert Mai Tag für Tag, Jahr für Jahr den Wiederaufbau Leipzigs, zeigt, wie die junge DDR der Stadt ein neues Gesicht gibt. Wie die allgegenwärtige Propaganda der SED das Straßenbild prägt. Eine Veränderung, der Mai kritisch gegenübersteht. Jede Art der Propaganda ist ihm nach den Jahren unter Hitler suspekt.

Sohn Karl Detlef stößt zu DDR-Zeiten auch auf Ablehnung

Anfangs nutzt er seine Kamera als Instrument der Verarbeitung dieser Zeit. Ab 1946 aber beginnen die Leute, den Wert einer solchen Kamera zu entdecken. Nur wenige besaßen eine eigene in den Nachkriegsjahren - wer sein Hab und Gut über den Krieg gerettet hat, musste gerade Kameras häufig bei den Besatzungstruppen abgeben. Und so bekommt Mai immer mehr Aufträge. Er tauscht Fotos gegen Lebensmittel. Später wird er bezahlt, vom Stadtarchiv in Leipzig, vom heutigen Stadtgeschichtlichen Museum, von Zeitungen und Verlagen - aber auch von Privatleuten, für die er Familienfeiern fotografiert.

Karl Heinz Mai stirbt am 09. Mai 1964 mit gerade einmal 44 Jahren an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzung. Sohn Karl Detlef ist damals 15 und erbt den dokumentarischen Schatz. "Die meisten Bilder habe ich erst nach seinem Tod gesehen und war erstmal völlig überwältigt von der Menge", sagt Karl Detlef Mai. Es brauchte Zeit, Energie, Geld und Durchsetzungsvermögen, diesen Schatz zu bergen und für die Öffentlichkeit nutzbar zu machen. "In der DDR habe ich oft gehört 'Ach, jetzt kommt der schon wieder mit seinen alten Fotos an!' Es ist vielen Einzelnen zu verdanken, dass ich mich nicht habe entmutigen lassen." Oft wusste Mai nicht, was oder wer auf den Bildern zu sehen ist. Doch mit jeder Veröffentlichung, mit jeder Ausstellung kamen Puzzleteile hinzu. "Da kam dann plötzlich ein Mann zu mir und sagte: 'Danke, jetzt weiß ich endlich, wen ich damals über die Bahnbrücke geschoben habe.'"

Ruine von Kochs Hof, im Hintergrund der Turm der Nikolaikirche, 1945
Ruine von Kochs Hof, im Hintergrund der Turm der Nikolaikirche, 1945 Bildrechte: Karl Heinz Mai / Fotothek Mai

Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell | 08. Mai 2020 | 19:30 Uhr