Eine Frau mit Kind und weitere Menschen laufen von einem Zug weg.
Ungläubige Freude ist den Menschen ins Gesicht geschrieben. Bildrechte: United States Holocaust Memorial Museum

Das Wunder von Farsleben in Sachsen-Anhalt April 1945: Die Befreiung von 2.500 jüdischen SS-Geiseln

31. März 2025, 05:00 Uhr

Drei Todeszüge verlassen im April 1945 das KZ Bergen-Belsen. Darin befinden sich jüdische Häftlinge, die von der SS als Geiseln eingeplant waren, um gegen gefangene Deutsche ausgetauscht zu werden. Einer dieser Züge mit 2.500 Menschen strandet in Farsleben. 2023 wird ein vierminütiger Film von der Befreiung dieser Geiseln im amerikanischen National-Archiv entdeckt. Fünf Monate leben die damals unerwünschten Menschen in Farsleben und Umgebung und verändern das Leben in der Region bis heute.

In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs ereignet sich in der Nähe des Dorfes Farsleben, nördlich von Magdeburg ein Wunder. Am 12. April 1945 kommt hier ein Todeszug zum Stehen, darin eingepfercht sind 2.500 jüdische Häftlinge, vor allem Frauen und Kinder, die aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen kommen.

SS plante Gefangenenaustausch

Portrait einer Frau und eines Kindes
Ein Bild aus guten Tagen: Peter Lantos mit seiner Mutter. Bildrechte: United States Holocaust Memorial Museum

Als sich die britischen und amerikanischen Truppen dem KZ Bergen-Belsen näherten, schickt die SS drei Züge mit Häftlingen los, mit dem Ziel Theresienstadt. Nur einer der drei Transporte triff dort ein. Die beiden anderen fahren tagelang umher. Einer wird nach zwei Wochen in Südbrandenburg durch die sowjetische Armee befreit, er wird später als der "verlorene Zug" tituliert. Den anderen, der bei Farsleben zum Halten kommt, nennt man später den "gestrandeten Zug". Die Häftlinge darin kommen aus Ungarn, den Niederlanden, Polen und Griechenland und tragen ihre private Kleidung. Die SS hatte diese Menschen als Geiseln eingeplant, sie sollten ursprünglich gegen gefangene Deutsche ausgetauscht werden. Doch die heranrückenden alliierten Truppen versperren diesen Weg. Die SS-Leute lassen die entkräfteten Häftlinge antreten und machen sich einen Tag später aus dem Staub. Am Mittag des 13. April erreicht eine Einheit der 743. Amerikanischen Panzerdivision den Zug.

Als wir merkten, dass es Amerikaner waren, waren wir erleichtert. Viele weinten, auch meine Mutter.

Peter Lantos
Ein altes Foto zeigt einen Jungen.
Peter Lantos als Kind Bildrechte: Peter Lantos

"Als wir merkten, dass es Amerikaner waren, waren wir erleichtert. Viele weinten, auch meine Mutter", erinnert sich Peter Lantos, der damals fünf Jahre alt war. Ein amerikanischer Offizier hat die bewegenden Momente der Befreiung fotografiert. Lange Zeit galten diese Fotos als einzige Bildquelle. Sie dokumentieren eine Episode des Krieges, die im Bewusstsein der Öffentlichkeit in Vergessenheit geriet.

Peter Lantos Geboren wird Peter Lantos 1939 als Peter Leipniker in der ungarischen Kleinstadt Mako. Im Dezember 1944 wird er mit seiner Familie ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Im März 1945 stirbt der Vater an Entkräftung und Hunger. Einen Monat später muss Peter gemeinsam mit seiner Mutter den Todeszug ins Konzentrationslager Theresienstadt besteigen. Nach dem Krieg studiert Lantos Medizin, spezialisiert sich auf Erkrankungen des Nervensystems, lebt in London und wird ein anerkannter Wissenschaftler.

Dem Tod in letzter Sekunde entronnen

Bis vor zwei Jahren Susanne Oehme vom Museum Wolmirstedt im amerikanischen Nationalarchiv in Washington einen vier Minuten langen Film entdeckt, vermutlich angefertigt von einem Filmteam der amerikanischen Armee. Eine Sensation. Auf den Bildern sind Menschen zu sehen, die ungläubig in die Kamera schauen und es kaum zu fassen scheinen, dass sie in letzter Sekunde dem Tod entronnen sind. Ausgezehrt und bis auf die Knochen abgemagert. Männer zerquetschen Läuse zwischen den Fingern. Manche hatten es nicht geschafft, auch Tote sind auf den Bildern zu sehen. Die Soldaten versorgen die Überlebenden mit Nahrung und bringen sie in den wenige Kilometer entfernten Ort Hillersleben, wo sie in einer ehemaligen Kaserne und den Wohnhäusern der Heeresversuchsanstalt untergebracht werden.

Viele der entkräfteten Menschen sterben in den nächsten Tagen, ausgezehrt von den Strapazen oder an Typhus. Sie werden auf einem jüdischen Friedhof in Hillersleben begraben.

Rikola-Gunnar Lüttgenau 4 min
Die Arbeit mit digitalen Werkzeugen werde immer wichtiger, erklärt Rikola-Gunnar Lüttgenau von der Gedenkstätte Buchenwald. Merh dazu im Audio: Bildrechte: picture alliance/dpa | Martin Schutt

Jüdischer Friedhof wird zum Sportplatz

Im September 1945 zerstreuen sich die jüdischen Überlebenden in alle Winde, wandern nach Palästina aus, in die USA oder die alte Heimat. Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende. In die Kaserne ziehen nach dem Abzug der Amerikaner im Juli 1945 sowjetische Soldaten ein. Aus dem jüdischen Friedhof wird ein Sportplatz. Das Kasernenareal ist nun eingezäunt und für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.

Teilweise sind bis zu 30.000 sowjetische Soldaten in Hillersleben stationiert, was dem Ort den Spitznamen "Klein Moskau" einbringt. Weil im Lauf der Zeit immer wieder Angehörige die Gräber ihrer 1945 gestorbenen Verwandten besuchen wollen, greift die DDR 1964 zu einem Trick. Auf dem Friedhof in Hillersleben wird ein Gedenkstein aufgestellt. Darauf die Inschrift: "Hier ruhen 32 unbekannte jüdische KZ-Häftlinge, die auf dem Todesmarsch von Bergen-Belsen von den Faschisten ermordet wurden und im April 1945 hier ihre letzte Ruhestätte fanden."

Ein Gedenkstein mit der Aufschrift "Befreiung 13. April 1945" steht nahe einer Zugstrecke.
Ein Gedenkstein erinnert an die Befreiung der SS-Geiseln am 13. April 1945. Bildrechte: Schulz/Wendelmann

Erst nach dem Mauerfall holen der Historiker Klaus-Peter Keweloh aus Hillersleben und sein Sohn Daniel die historische Wahrheit ans Licht. Peter Lantos und Daniel Keweloh sind durch den gestrandeten Zug zusammengekommen. Der eine, weil sein Schicksal ihn an diesen Ort geführt hat, der andere, weil er dort lebt. Daniel Keweloh empfindet durch die Begegnung mit den Überlebenden die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ihre Schicksale nicht vergessen werden.

Die Kewelohs halten den Kontakt zu Überlebenden wie Peter Lantos und führen die Kinder der ehemaligen Zuginsassen zu den authentischen Orten. Daniel Keweloh erforscht seit vielen Jahren die Ereignisse um den Todeszug. Inzwischen erinnert ein Gedenkstein daran. Doch jahrzehntelang wurde die Geschichte um den Zug totgeschwiegen. Daniel Keweloh ist in der Nähe aufgewachsen und hat die Ereignisse in das Bewusstsein der Menschen zurückgeholt.

Ein Plan war: Wir erschießen hier alle. Ein anderer  Plan war: In Magdeburg ist die Brücke zerstört. Wir lassen den ganzen Zug da runterfallen. Dann hat sich das Problem, dadurch erledigt. Aber man hat dann schon immer näher gehört, dass die amerikanische Armee vorrückt.

Daniel Keweloh
Zwei Männer unterhalten sich, während sie gehen.
Auf dem Bild sind Peter Lantos und Daniel Keweloh in London zu sehen. Bildrechte: Schulz/Wendelmann

Er und sein Vater kommen in der MDR-Dokumentation zu Wort, ebenso wie der junge Filmemacher Robert Hirschmann, der einen Kurzfilm über die damaligen Ereignisse produziert hat und die Studentin Johanna Mücke. Schon als Schülerin am Gymnasium in Wolmirstedt hat sie sich mit der Geschichte des Zuges beschäftigt, hat Briefe und Interviews von den Überlebenden übersetzt. Der Überlebende Peter Lantos ist ebenso in der Doku zu sehen wie Susanne Oehme vom Museum Wolmirstedt, die den Film über die Rettung der KZ-Häftlinge entdeckt hat.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Zug ins Leben - Die Befreiung der SS-Geiseln | 07. April 2025 | 23:05 Uhr

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