Zeitzeugen Tonja Demjantschuk und Albert van Dijk berichten Erinnerungen an die Zwangsarbeit in den Thüringer Arbeitslagern
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13. Januar 2023, 05:00 Uhr
Als die Kriegswirtschaft immer mehr "menschlichen Nachschub" verlangt, startet NSDAP-Spitzenpolitiker Fritz Sauckel eine regelrechte Menschenjagd. Zu den über fünf Millionen Opfern zählen auch die Ukrainerin Tonja Demjantschuk und der Holländer Albert van Dijk, die blutjung als Zwangsarbeiter für die Rüstung nach Deutschland, in die Thüringer Arbeitslager auf dem Walpersberg, Buchenwald und Mittelbau-Dora verschleppt werden. 2009 kehrten sie an die Orte des Grauens zurück, um Zeugnis abzulegen.
"Wo die Freiwilligkeit versagt ..., tritt die Dienstverpflichtung an ihre Stelle... Wir werden die letzten Schlacken unserer Humanitätsduselei ablegen! Jede Kanone, die wir mehr beschaffen, bringt uns eine Minute dem Sieg näher!" Eine flammende Rede hält Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz in Deutschland Anfang Januar 1943 vor seinen 800 Mitarbeitern. Da hat das große Sterben der 6. Armee von General Paulus im Kessel von Stalingrad schon begonnen. Die Kriegswirtschaft braucht immer dringender "menschlichen Nachschub". Sauckels bewaffnete Anwerber machen im Osten inzwischen regelrecht Jagd auf Menschen.
Fritz Sauckel (1894-1946)
Fritz Saukel wird am 27. Oktober 1894 in Haßfurt geboren. Seine Karriere beginnt als SA-Mann der ersten Stunde. 1925 ernennt ihn Hitler zum Gaugeschäftsführer in Thüringen und zwei Jahre später zum Gauleiter, mit Sitz in Weimar. 1929 tritt er erstmals als Abgeordneter der NSDAP in den Thüringer Landtag ein. Drei Jahre später steht er an der Spitze der Landesregierung.
In seiner Amtszeit ist er auch beteiligt am Bau des KZ Buchenwald 1937. Sein Ziel ist es, in Thüringen eines der größten Rüstungsunternehmen in Deutschland aufzubauen. 1942 wird er zum "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in Deutschland" ernannt, was ihn zum Hauptverantwortlichen für die Verschleppung von Millionen Menschen aus ganz Europa macht. Dafür wird er bei den Nürnberger Prozessen am 16. Oktober 1946 zum Tode verurteilt.
Mit 15 aus der Ukraine verschleppt
Im Sommer 1944 trifft es auch die Familie Demjantschuk, die auf einem Gehöft nahe der Stadt Kovel in der heutigen Ukraine lebt. Ihr Vater hatte ein Stück Land gekauft und darauf ein Haus gebaut. Man legte einen Garten an mit vielen Kirschbäumen. "Und jeder, der vorbei kam, hat um Kirschen gebeten", erinnert sich Demjantschuk. "Meine Mutter war eine schöne junge Frau mit drei Kindern. Es war schön und ich war glücklich, wir alle waren es."
Auf einen Schlag ist die glückliche Kindheit vorbei. Der Hof der Demjantschuks wird bei den in der Gegend tobenden Kämpfen gegen die deutschen Truppen zerstört. Wenig später wird die Familie aufgegriffen. Tonja Demjantschuk ist kaum 15 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern zusammengepfercht in Güterwaggons nach Thüringen ins Zwangsarbeiterlager auf dem Walpersberg bei Kahla deportiert wird.
Wir waren traurig, wir hatten Angst, hatten nichts zu trinken, nichts zu Essen, nur eine dünne Suppe, nichts zum Anziehen, kein Geld. Wir hatten nichts zu lesen. Absolut niemand hatte etwas Eigenes. Sie trieben uns nur jeden Tag zur Arbeit und von der Arbeit zurück zu den Baracken.
Auf dem Walpersberg soll in den Stollen der Reichsmaschall Göring Werke (REIMAHG), die auch zu der von Sauckel gegründeten Gustloff-Stiftung gehören, der hochmoderne Düsenjäger Messerschmidt 262 gebaut werden. Tonjas Vater und ihr Bruder müssen dafür im Berg schuften, zwölf bis 14 Stunden am Tag. Ausgezehrt von Hunger und Krankheiten. Wer nicht mehr kann, bleibt einfach am Wegesrand liegen und stirbt einsam und qualvoll. Tonjas Arbeit: Sie muss Gruben für die Toten ausheben. Die Erinnerung daran überfällt sie, als sie 64 Jahre später noch einmal an den Ort ihres Martyriums zurückkommt.
Walpersberg
Beim Bau der unterirdischen Fabrik im Walpersberg bei Kahla in Thüringen, die für die Fertigung des strahlgetriebenen Jagflugzeuges Messerschmitt 262 vorgesehen war, wurden fast 15.000 Zwangsarbeiter aus ganz Europa eingesetzt. 5.000 starben. In den gigantischen unterirdischen Anlagen, die nach Kriegsende gesprengt wurden, wurden jedoch nur noch 25 Flugzeuge ME 262 montiert.
Zwangsarbeit unter Sauckels Blick
Fritz Sauckel lässt sich ein Ferienhäuschen in den Wald auf dem Walpersberg bauen. Hier wohnt er, wenn er die Arbeit in der RHEIMAG kontrolliert. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher aber wird er leugnen, jemals vor Ort gewesen zu sein und gesehen zu haben, wie die Zwangsarbeiter lebten. Bis zum Schluss wird er die Verantwortung für die Verschleppung von fünf Millionen Menschen aus ganz Europa nach Deutschland leugnen. Die Demjantschuks gehören zu den 15.000 Zwangsarbeitern, die im Auftrag des Generalbevollmächtigten im Walpersberg schuften. Annähernd 5.000 von ihnen kommen um.
Viele Menschen sind hier gestorben. Ich verneige mich vor ihnen. Das alles hat mein ganzes Leben überschattet. Ich kann es niemals vergessen, ganz gleich, was ich tue.
Die Demjantschuks überleben. Ihre Heimat sehen sie - bis auf Tonja - nie wieder. Nach der Befreiung geht die Familie nach England, dann nach Wales. Ein Jahr nach dem Ende der Lagerzeit stirbt der schwer kranke Vater an den Folgen der Zwangsarbeit.
Tonja Demjantschuk scheint ein normales Leben zu führen. Sie heiratet und wird Mutter zweier Kinder. Doch verwunden hat sie die Erlebnisse im Zwangsarbeiterlager nie.
Mit 18 aus Holland zwangsverpflichtet
Der Holländer Albert van Dijk ist ein abenteuerlustiger Freigeist: "Das Wasser hat mich immer angezogen. Ich war mir sicher, dass ich später ein Fischermann werde oder auf ein Schiff oder zur Seefahrtsschule wollte." Nach der Ausbildung an der Handelsschule in Kampen will er die Welt sehen. Da wird der 18-Jährige zur Arbeit in Deutschland zwangsverpflichtet. Er versucht zu entkommen. An der holländischen Grenze wird er aufgegriffen und verhaftet. Registriert wird er als: "Arbeitsscheu - R". Das bedeutet Einsatz im Deutschen Reich. Albert van Dijk wird Ende 1942 ins KZ Buchenwald deportiert.
Das Tor wurde geöffnet. 'Jedem das Seine', stand darüber. Was heißt das: 'Jedem das Seine'? Das wusste ich bald: 'Der eine Dreck, der andere Speck.'
Direkt im Wachbereich des Lagers lässt Fritz Sauckel zu diesem Zeitpunkt die Waffenfabrik "Gustloff II" errichten. Hier muss der Häftling mit der Nummer 7646 ein Jahr lang mit etwa 1.000 seiner Leidensgenossen schwer arbeiten, immer hungrig, in dünnen Sträflingskleidern und Holzschuhen. Für vier Reichsmark pro Tag mietet Sauckel die Arbeitskraft Albert van Dijk von der SS.
Schreckenserfahrungen in Mittelbau-Dora
Im Winter 1944 kommt der inzwischen 19-jährige Albert van Dijk am schrecklichsten Punkt seines Leidensweges in Deutschland an. Er wird von Buchenwald in das Nebenlager Mittelbau-Dora bei Nordhausen deportiert. Er gehört zu den ersten Häftlingen, die fünf Monate lang Tag und Nacht die unterirdischen Stollen anlegen, in denen im Auftrag des Rüstungsministers Albert Speer die "Wunderwaffe V2" produziert werden soll. Nach der Bombardierung der Heeresversuchsanstalt Peenemünde im August 1943 hat man die Produktion der Vergeltungswaffe unter Tage verlegt. Sauckel liefert die Arbeiter. 20.000 Menschen sterben von 1944 bis 1945 in den Stollen. Albert van Dijk hat damals die Aufgabe, die Toten zu zählen. Ihn kostet es größte Anstrengungen, 2009 noch einmal an den infernalischen Ort zurückzukehren, für ihn alles andere als ein Friedhof:
Ein Friedhof? Nein, es liegen hier Tote, sie liegen immer noch da, unter der Erde...eine ausgelöschte Hölle, in der wir uns befinden. Ich friere, ich möchte raus...
Albert van Dijk überlebt Buchenwald, die "kalte Hölle von Dora" und auch den Todesmarsch nach Sachsenhausen, als das Lager vor den heranrückenden Amerikanern evakuiert wird.
Im Mai 1945 kehrt er in seine Heimatstadt Kampen nach Holland zurück und arbeitet schließlich doch noch am Wasser. Er heiratet und bekommt sechs Söhne.
Mittelbau-Dora und die V 2
Nach der Bombardierung der Heeresversuchsanstalt Peenemünde im August 1943 wurde die Produktion der Vergeltungswaffe 2 unter die Erde verlegt.
Zur Produktion im Kohnstein bei Nordhausen wurden Zwangsarbeiter aus dem auch für diesen Zweck eingerichteten nahegelegenen Konzentrationslager Mittelbau-Dora rekrutiert, das erst im Spätsommer 1943 als Außenstelle des KZ Buchenwald gegründet wurde. 20.000 der etwa 60.000 eingesetzten Häftlinge überleben die infernalischen Bedingungen nicht.
Die Flüssigstoff-Fernrakete V 2 (V für Vergeltung) war 14 Meter lang, 13 Tonnen schwer und hatte eine Reichweite von 380 Kilometern. Zusammen mit der Flugbombe V 1 wurde sie von der Nazi-Propaganda zur "Wunderwaffe" erklärt, mit deren Hilfe das Hitler-Regime eine Wende im Zweiten Weltkrieg erzwingen wollte. Die V 2 wurde vor allem bei der Bombardierung Londons und Südenglands eingesetzt.
Nach dem Krieg nutzten der in die USA übergesiedelte Wernher von Braun, der die V 2 in Peenemünde mitentwickelt hatte, und seine Mannschaft die ehemalige Boden-Boden-Rakete als Grundstein für die Entwicklung der Mond-Rakete Saturn V.
Dieser Artikel erschien erstmals im August 2009.