Elberegulierung im Dritten Reich
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19. Februar 2018, 15:38 Uhr
Die Nazis hatten mit der Elbe einiges vor. Im Rahmen der Kriegsvorbereitungen sollte sie zu einer Wassermagistrale ausgebaut werden, gewissermaßen zu einem zweiten Rhein. Weil Arbeitskräfte im Nazideutschland aber Mangelware waren, griff man auf Strafgefangene zurück – die Gefängnisse waren schließlich voll. Um die weiter entfernten Flussbaustellen erreichen zu können, wurde ein Kreuzfahrtschiff zu einem schwimmenden Gefängnis umgebaut.
1936 ruft das nationalsozialistische Deutschland den zweiten Vierjahresplan aus. Offiziell soll er die Ernährung des deutschen Volkes in der Zukunft sichern – so wird das Vorhaben der Bevölkerung dargestellt. In einer geheimen Denkschrift von Adolf Hitler sind aber die wahren Ziele festgehalten: Die deutsche Wirtschaft soll in kürzester Zeit auf den kommenden Krieg vorbereitet werden. Entsprechend wird die Rüstungsindustrie weiter hochgefahren. Außerdem soll das Reich autark, also unabhängig vom Ausland werden – weshalb man die an sich unrentable Verarbeitung der minderwertigen einheimischen Eisenerze sowie die ebenso unrentable Herstellung von synthetischem Benzin, synthetischem Kautschuk und synthetischem Fett fördert. Teil der kriegsvorbereitenden Maßnahmen sind aber auch viele Infrastrukturprojekte – darunter die Niedrigwasserregulierung der Elbe, die den Fluss zu einem zweiten Rhein machen soll.
Kleines Wirtschaftswunder
Es gibt allerdings ein Problem: Durch die forcierte Aufrüstung erlebt Deutschland unter Adolf Hitler sein erstes, kleines Wirtschaftswunder. Arbeitskräfte sind inzwischen Mangelware, nichts mehr erinnert daran, dass noch vor wenigen Jahren Millionen Menschen arbeitslos waren und vom "Stempelgeld" und Armenküchen lebten. Woher sollen also die für die Elberegulierung benötigten Arbeitskräfte kommen? Die Machthaber finden schnell eine Lösung: Die Nazi-Gefängnisse sind voll, deren Insassen sind verfügbar und obendrein noch billiger als freie Arbeiter. Mit dem Erlass Nr. III s2 3503 verfügt der Reichsminister für Justiz, dass in der Nähe des Zuchthauses Coswig ein Arbeitslager entstehen soll. Später wird es unter dem Namen "Strafgefangenenlager Elberegulierung Griebo" bekannt. Die Wittenberger Geschichtsstudentin Johanna Keller arbeitet seit vier Jahren an diesem wenig erforschten Kapitel der Geschichte. Erst durch ihre Archivrecherchen sind Details zum Alltag im Lager bekannt geworden, das bislang nur mit wenigen Sätzen in den Geschichtsbüchern abgehandelt wurde.
Arbeiter aus dem Zuchthaus Coswig
Die ersten Insassen kamen aus dem Zuchthaus Coswig, erzählt Keller. "Es waren zum einen Personen, die auch nach heutigen Maßstäben als kriminell gelten würden: Betrüger, Diebe, Vergewaltiger. Aber es waren auch viele Menschen, die einfach nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten: politische Häftlinge, Homosexuelle oder sogenannte 'Rassenschänder'". Im Krieg kamen auch Menschen hinzu, die beim Schwarzschlachten oder Schwarzmahlen von Mehl ertappt wurden – aus heutiger Sicht Lappalien, die damals aber als Kriegswirtschaftsverbrechen galten und drakonisch bestraft wurden.
Der Alltag der Häftlinge besteht hauptsächlich aus Arbeit. Wie heute lautete das Ziel schon damals, auch in Zeiten von Niedrigwasser bestimmte Mindesttiefe der Fahrrinne zu erreichen. Dazu wurden die bestehenden Buhnen ausgebessert und verlängert und neue angelegt. Bei den Buhnen handelt es sich um kleine Dämme, die quer zur Fließrichtung in den Strom hineinragen. So wird er künstlich verengt und fließt in der Mitte schneller, was wiederum zur Folge hat, dass sich die Elbe gewissermaßen von selbst vertieft. Um solche Arbeiten auszuführen, mussten die Häftlinge stundenlang bis zur Hüfte, manchmal auch bis zur Brust im Elbstrom stehen.
Schwerstarbeit
Die schwere Arbeit ruiniert ihre Gesundheit. Hauptprobleme durch den stundenlangen Wasserkontakt sind da noch das kleinste Problem. Viele Häftlinge bekommen Probleme mit Knochen und Gelenken, einige auch Tuberkulose. Die mangelhafte Ernährung, bestehend aus viel Wassersuppe und wenig Brot, tut ein Übriges – viele Lagerinsassen werden aufgrund des Vitaminmangels nachtblind und können in der Dämmerung nicht mehr arbeiten. Die medizinische Versorgung ist bei alledem denkbar schlecht. "Der 'Lagerarzt' hatte keine medizinische Ausbildung, es war eigentlich nur ein Häftling, der gerade mit einem Thermometer umgehen konnte. Ein Zeitzeuge berichtete, dass er eine Rippenfellentzündung hatte, die mit Aspirin und Kohletabletten kuriert werden sollte", erzählt Geschichtsstudentin Johanna Keller, die ihre Bachelor-Arbeit über das Lager geschrieben hat. Wer die Strapazen körperlich nicht mehr aushält, wird zum Sterben ins Zuchthauslazarett nach Coswig abgeschoben.
Gefangenenschiff
Das Lager zieht während seines Bestehens zweimal um. In Coswig ist es in der angemieteten Hallen einer leer stehenden Fabrik untergebracht. Die Sollstärke liegt bei etwa 400 Mann. Schon ein halbes Jahr später, im Herbst 1936, wird es aber an den Standort Dessau-Roßlau an der Biethe, nördlich des Industriehafens verlegt. Dort wurden Baracken für rund 550 Gefangene errichtet. Um die weiter entfernten Elbebaustellen erreichen zu können, wird 1937 ein Dampfer der Weißen Flotte zu einem Gefangenenschiff für 150 Personen umgebaut. "Das Gefangenenschiff 'Bieber' war ursprünglich ein Kreuzfahrtschiff, das 1924 erbaut wurde. Mit diesem Kreuzfahrtschiff wollte der Verein 'Grüne Heimat Berlin' Arbeiterfamilien einen günstigen und schönen Urlaub ermöglichen, zum Beispiel auf der Spree. 1936/37 wurde es zu einem schwimmenden Gefängnis für 150 Häftlinge umgebaut. Die Kabinen für die Fahrgäste wurden zu Mannschaftszelt umgebaut und an den Fenstern wurden Gitter angebracht", berichtet Johanna Keller.
Bedeutung der Elberegulierung schwand 1939
Mit dem letzten Umzug des Barackenlagers im August 1939 auf das Werksgelände der Bayerischen Stickstoffwerke bei Griebo – heute gehört das Gelände zu Lutherstadt Wittenberg – wird eine Veränderung der Arbeitsaufgaben sichtbar. "Nach Kriegsbeginn geriet die Elberegulierung immer weiter in den Hintergrund, die Rüstungswirtschaft wurde auf einmal wichtiger", erzählt Keller. Von da an kommen auch verstärkt Häftlinge aus den besetzten Ländern ins Lager, insbesondere Widerstandskämpfer aus dem "Protektorat Böhmen und Mähren". Während anfangs Rüstungsproduktion und Elberegulierung noch parallel laufen, wird um 1941 komplett auf Kriegsproduktion umgestellt. In dieser Zeit befinden sich sogar 1.500 Häftlinge im Lager – doch das ist ein anderes Kapitel der Geschichte.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV auch in MDR Zeitreise 08.08.2017 | 21.15 Uhr