1943 Deportationsbefehl Helga Kinsky und das Konzentrationslager Theresienstadt
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24. November 2020, 11:47 Uhr
Das KZ Theresienstadt in Nordböhmen diente ab November 1941 als ghettoähnliches Lager. Zwischen Bis 1945 waren mehr als 140.000 Menschen dort eingesperrt, darunter auch etwa 15.000 Kinder. Die gebürtige Wienerin Helga Kinsky kommt als 13-Jährige dort an – und überlebt. Heute arbeitet sie daran, die Erinnerung an die Opfer des Holocaust lebendig zu halten.
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Die Kindheit in Wien
Helga Kinsky wird 1930 in Wien geboren. Obwohl ihre Eltern geschieden sind, hat sie eine unbeschwerte Kindheit. Ihr Vater betreibt ein Kaffeehaus, dorthin darf die kleine Helga immer sonntags zum Fünf-Uhr-Tee. Dass sie Jüdin ist, spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Bis 1938 die deutsche Armee einmarschiert. Helga darf nicht mehr in die Schule gehen, ihre Freundinnen meiden sie. Die Wohnung und das Kaffee des Vaters werden arisiert. Im März 1939 entkommt die Mutter nach England. Helga und der Vater retten sich zunächst zu Verwandten ins tschechische Gaya. Nachdem das Gebiet ab 1939 zum Protektorat Böhmen-Mähren gehört, ist die jüdische Bevölkerung auch hier nicht mehr sicher. Im Januar 1943 erhalten Helga und ihr Vater den Deportationsbefehl.
Jetzt sitze ich am Schreibtisch, bin sehr müde. Macht nichts. Den letzten Tag zu Hause muss ich doch festhalten. In zwölf Stunden wird die ganze Wohnung verlassen sein. Den Kopf nicht hängen lassen. Sondern erhobenen Hauptes von Zuhause weg gehen.
Der Transport ins Ghetto
Die Familie Kinsky ist vorbereitet – schon seit Sommer hat sie probegepackt, 50 Kilo Gepäck ist erlaubt. Kekse werden auf Vorrat gepackt, die sonst weiße Bettwäsche blau gefärbt, weil sie nicht mehr so oft gewaschen werden kann. Doch die Ankunft im Ghetto Theresienstadt ist für die 12-Jährige dennoch ein Schock. Alles Grau in Grau, es stinkt, alte Menschen liegen am Boden.
Helga wird vom Vater getrennt und kommt in das Mädchenheim. Dort schlafen die Kinder in dreistöckigen Holzbetten, 30 Mädchen auf ungefähr 30 Quadratmeter. In dieser Enge erlebt Helga Kinsky eine Art Alltag: Die Kinder lesen, zeichnen und singen. Heimlich studieren sie die berühmte Kinderoper "Brundibár" von Hans Krása ein. Später wird es im Ghetto aufgeführt, Helga selbst steht aber nicht auf der Bühne. Sie beginnt, Tagebuch zu schreiben.
Am Vormittag hatten wir einen ganz normalen Rhythmus. Mit aufstehen, lüften, jemand holte dann den schwarzen Kaffee von der Kinderküche. Wenn jemand noch ein Stück Brot übrig hatte, hat man das dazu gegessen. Meistens hatte er keines.
Die Ankunft in Auschwitz
Doch dann kommt für Helga ein verhängnisvoller Tag im Oktober 1944. Sie wird in einen Viehwaggon gesperrt, der in das Vernichtungslager Auschwitz rollt. Der Vater bleibt in Theresienstadt. Helga Kinsky ist zu dem Zeitpunkt 14 Jahre alt. 21 Monate lang hat sie in Theresienstadt Menschen kommen und wieder verschwinden sehen. Als sie in Auschwitz aussteigt, entscheidet das Schicksal. Die Gruppe der Neuankömmlinge wird geteilt, die meisten werden noch in der Nacht vergast. Helga nicht, sie verlässt das Vernichtungslager lebend. Sie behauptet, sie sei 18 und wird eingeteilt zur Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik im sächsischen Oederan. Bis im April 1945 die Front näher rückt und die Nationalsozialisten das Arbeitslager Oederan hektisch räumen lassen. Wieder kommt Helga in einen Viehwaggon. Nach tagelanger Irrfahrt ohne Essen, ohne Schlafplatz, hält der Zug eher zufällig wieder vor Theresienstadt. Helgas Vater ist noch da. Gemeinsam erleben sie den Tag der Befreiung.
Wir haben immer gedacht, dass wird wahnsinnige, riesige Freude sein. Aber das hat sich nicht so eingestellt. Ja, man weiß schon, dass das Leben gut ist. Aber man kann es nicht vergessen. Das schlummert immer in einem. Das kann man nicht wegstecken, diese Jahre. Unmöglich.
Die Arbeit als Zeitzeugin
Ein Jahr nach Kriegsende sieht Helga Kinsky erstmals ihre Mutter wieder, heiratet später in England. Nach Stationen in Bangkok und Äthiopien kehrt sie erst 1957 mit ihrer Familie nach Österreich zurück. Die erste Zeit spricht sie nur Englisch. Heute ist Helga Kinsky als Zeitzeugin unterwegs, vor allem in Schulen. Eine Grundlage ihrer Erinnerungsarbeit ist ein Tagebuch, das sie in Theresienstadt führte. Angereichert mit Aufzeichnungen ihres Vaters Otto Pollak ist es als Buch erschienen.
Das Ghetto Theresienstadt 1941 begannen die Nationalsozialisten, die ehemalige Festungsanlage in Terezin nordwestlich von Prag als Sammellager für die jüdische Bevölkerung umzubauen. Bis 1945 waren mehr als 140.000 Menschen dort eingesperrt, darunter auch etwa 15.000 Kinder. Die Lebensbedingungen waren von Hunger, Tod und Verderben bestimmt. Dennoch gilt Theresienstadt als nationalsozialistisches "Vorzeigeghetto": Im Lager waren viele Künstler und Schriftsteller interniert, es gab Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen. Die kulturellen Aktivitäten nutzte das NS-Regime für Propagandazwecke und gestattete am 23. Juni 1944 einer Delegation des Deutschen Roten Kreuzes einen Besuch. Im Vorfeld wurden daher besonders viele Häftlinge deportiert. Schon ab Oktober 1942 führen die Transporte ausschließlich in das Vernichtungslager Auschwitz. Am 9. Mai 1945 übernimmt die Rote Armee die Verantwortung für das Lager.
Buchtipp
Pollak-Kinsky, Helga: "Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak",
288 Seiten,
Berlin: Edition Room 28 2014,
ISBN: 978-3-446-24151-0,
Preis: 22,90 Euro