Gasmessstation Uzhgorod in der Westukraine.
Gasmessstation Uzhgorod in der Westukraine. Hier endet der von der DDR gebaute Trassenabschnitt in der ehemaligen Sowjetunion. Bildrechte: imago/ZUMA Press

Handelspartner Moskau Gas gegen Rohre – so begann die Abhängigkeit von russischem Gas

11. Juli 2022, 11:00 Uhr

Heute will Deutschland so schnell wie möglich unabhängig von russischem Erdgas werden. Vor 50 Jahren konnte das preiswerte sowjetische Gas gar nicht schnell genug kommen: Am 6. Juli 1972 unterzeichnete die Bundesrepublik mit der Sowjetunion den ersten Liefervertrag. Gas war hoch begehrt in Westeuropa und geliefert werden sollte es über die damals noch gar nicht bestehende Erdgas-Trasse "Sojus". Die wurde von den sozialistischen "Bruderländern" gebaut – mit Technik aus Westdeutschland.

1974 unterschreiben die Länder des RGW ein "Generalabkommen über die Zusammenarbeit bei der Erschließung und den Bau einer Erdgasleitung". Die DDR übernimmt einen eigenen Bauabschnitt, 500 Kilometer lang. Er ist das 15. zentrale Jugendobjekt der FDJ und bekommt den Namen: Druschba, zu Deutsch Freundschaft.

Prestige-Projekt für den Sozialismus

Die Trasse ist in der DDR ein großes Thema. Ein Job beim Bau an der Erdgasleitung ist eine der wenigen Gelegenheiten, Abenteuer fern ab der Heimat zu erleben und mehr Geld zu verdienen als im Betrieb zu Hause. Doch dass das Vorzeigeprojekt der sozialistischen Staaten Europas nicht nur diese mit Erdgas versorgen, sondern auch den Verkauf sowjetischen Erdgases in den kapitalistischen Westen ermöglichen soll, davon wussten die meisten nichts. Schließlich wurde die Trasse offiziell als die solidarische Leistung der sozialistischen Bruderländer gefeiert. Doch für die Sowjetunion winkten mit dem Verkauf sibirischen Erdgases nach Europa auch westliche Devisen. Und Westeuropa freute sich auf günstige Gaslieferungen aus den sibirischen Weiten.

Werner Heinze ist damals 36 Jahre alt und Betriebsdirektor in Bitterfeld. Er geht für fünf Jahre an die Trasse, denn die DDR braucht nicht nur Schweißer. Als Bauingenieur hat Heinze Erfahrung in der Planung und im Aufbau von Werken. Schließlich betreut er als Baustellendirektor den kompletten Bauabschnitt der DDR in der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik, von Krementschuk über Tscherkassy bis Bar.

Natürlich war das Abenteuerlust und es war eine größere höhere Aufgabe, zusammen mit vielen, vielen Menschen. Das war was ganz Neues, eine neue Herausforderung im Vergleich zu dem, was ich bisher gemacht hatte.

Werner Heinze, damals Baustellendirektor am DDR-Abschnitt der Trasse

Sojus ist die längste Erdgastrasse der Welt

Die Erdgastrasse "Sojus" wird ein Bauwerk der Superlative: 2.743 Kilometer lang, von den Erdgasfeldern von Orenburg im Süd-Ural quer durch die Sowjetunion bis an ihre Westgrenze. Sie gilt als "Schritt ins nächste Jahrtausend", als Jahrhundertbauwerk. Für die DDR sind im Laufe der Jahre rund 12.000 Menschen vor Ort im Einsatz. Gebaut wird parallel an der Infrastruktur, die so eine Anlage braucht: Straßen, Häuser, und Verdichterstationen - aber auch Kindergärten und Schulen.

Die technischen und logistischen Herausforderungen waren, dass wir für 5.000 Leute ständig alle Unterkünfte transportiert haben, die Baumaschinen, das Baumaterial – alles musste in die Ukraine transportiert werden, also die Logistik war sehr groß.

Werner Heinze, damals Baustellendirektor am DDR-Abschnitt der Trasse

Große Rohre in schwierigem Gelände montieren

Die Rohre, die zu verlegen und zu verschweißen waren, hatten einen Durchmesser von 1 Meter 42 – sie wurden aus Italien und Westdeutschland geliefert. Nie zuvor hatte die DDR ein solches Großprojekt im Ausland zu stemmen. Dazu kamen das Klima und die Landschaft. Eisige Winter und Regen, tiefer Schlamm und breite Flüsse schaffen harte Arbeitsbedingungen, vor denen auch Spezialmaschinen kapitulieren. Doch die Trasse gilt als Symbol für die Solidarität und den Zusammenhalt der sozialistischen Staaten.

Quartalsweise müssen die Bauleiter der DDR, aus den Volksrepubliken Polen, Ungarn und Bulgarien sowie der ČSSR Bericht erstatten. 1978, nur vier Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens der sozialistischen Länder, soll das erste Erdgas aus Orenburg durch die Röhren fließen. Und neben den sozialistischen Verbündeten warten längst auch andere Länder auf das sowjetische Erdgas: Österreich, Frankreich, Italien und nicht zuletzt die Bundesrepublik.

Logo MDR 2 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
2 min

Was bedeuten 35 Grad minus oder schlierige Schlammböden für Mensch und Maschine? Ex-Trassenbau-Betriebsleiter Achim Reinsch und Uli Barth, damals Chefingenieur, erzählen ...

MDR FERNSEHEN Di 12.10.2004 20:46Uhr 01:40 min

https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/video139622.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Russisches Gas schon lange begehrt in Europa

Bundesdeutsche Unternehmen hatten sich schon Ende der 1950er Jahre bemüht, Öl und Gas aus der Sowjetunion zu bekommen. "Es gab auch schon Vorverträge, die zum Bau von Pipelines geführt hätten", erzählt Frank Bösch, vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, "wenn die USA nicht interveniert hätten. In dem Fall mit einem Embargo, mit Sanktionen 1962, die das Geschäft hinfällig machten." Ende der 1960er Jahre schließen dann bundesdeutsche Banken und die Stahlunternehmen Thyssen-Krupp, Mannesmann sowie die Ruhrgas AG Verträge mit der Sowjetunion. Das Großprojekt wird mit Geld und Technik aus dem Westen unterstützt, im Gegenzug gibt es sowjetisches Gas. Dieses erste Erdgas-Röhren-Geschäft ermöglicht den Bau der Erdgasleitung "Bruderschaft", die von den Erdgasfeldern bei Urengoi in Sibirien bis nach Uschgorod im Westen der damaligen UdSS führt. Zunächst gedacht, um den Westen des eigenen Landes und auch die sozialistischen Bruderländer mit Erdgas zu versorgen. Im Oktober 1973 erreicht sibirisches Erdgas dann die Bundesrepublik. Es folgen weitere Erdgas-Röhrengeschäfte in den Jahren 1970, 1972, 1974 und 1975.

Ich wusste es nicht, war aber auch nicht relevant oder interessant. Es liegt natürlich nahe, dass das Gas auch über diese Leitung kommen musste, aber diese Verträge kannten wir nicht und es wurde auch nicht darüber gesprochen.

Werner Heinze, damals Baustellendirektor am DDR-Abschnitt der Trasse

Wirtschaft baut Brücken im Kalten Krieg

Dieses Geschäft wird mitten im Kalten Krieg abgeschlossen. Die Pipeline wird eine Brücke, die Ost und West miteinander verbindet und gleichzeitig an Vorkriegstraditionen anknüpft, wirtschaftlich und politisch. "Die Erdgas-Röhren-Geschäfte waren sowohl wirtschaftliche als auch politische Geschäfte", erklärt Frank Bösch die Bedeutung. "Sie wurden von der Wirtschaft initiiert und von der Politik unterstützt, gingen der Ostpolitik voraus und verfestigten sie dann auch 1970."

1978 strömt das erste sowjetische Gas durch dieses wirtschaftliche und politische Großprojekt. Und bereits kurz danach ruft die DDR zum nächsten FDJ-Projekt in der Sowjetunion auf: der Erdgastrasse von Urengoi in Sibirien. Baubeginn 1982, mitfinanziert durch Kredite bundesdeutscher Banken.

Wie stark ist Deutschland von russischem Gas abhängig?

Erdgas aus Russland deckte 2021 rund 55 Prozent des deutschen Bedarfs. Inzwischen ist der Anteil allerdings gesunken und liegt laut Bundeswirtschaftsministerium bei 35 Prozent. Bis Ende 2022 soll er weiter auf 30 Prozent zurückgehen.

Der größte Teil des russischen Gases erreicht Deutschland inzwischen über die Pipeline Nord Stream 1, die am Meeresgrund der Ostsee verlegt ist. Der Gastransit durch die Druschba-Trasse wurde aufgrund des Ukraine-Krieges stark gedrosselt.

(dh, ee)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 04. Juli 2022 | 18:30 Uhr

Arbeiter läuft an einem Bauabschnitt der "Drushba-Trasse" entlang, 1970er, Ukraine
Arbeiter läuft an einem Bauabschnitt der "Drushba-Trasse" entlang, 1970er, Ukraine Bildrechte: MDR/Thomas Billhardt/Galerie Camera Work AG
Arbeiterinnen mit "Drushba-Trasse"-T-Shirts beim Feiern, 1970er, Ukraine
Arbeiterinnen mit "Drushba-Trasse"-T-Shirts beim Feiern, 1970er, Ukraine Bildrechte: MDR/Thomas Billhardt/Galerie Camera Work AG