Der wilde Osten Volkspolizei 1990: Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen
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27. November 2018, 16:02 Uhr
1990 befand sich die Volkspolizei in einer "Identitätskrise". Die neue Lage und der Autoritätsverlust hatten sie zutiefst verunsichert. Ihre Aufgaben nahmen die einstigen "Büttel der SED" nur noch oberflächlich wahr. Eine Art rechtsfreier Raum entstand - der wilde Osten.
Berlin, Alexanderplatz, im Sommer 1990. Auf dem weitläufigen Areal im Zentrum der Hauptstadt der DDR breiteten Hehler und Schwarzhändler Tag für Tag ihre Waren aus – Teppiche, Unterhaltungselektronik, Jeans, Autoteile; Devisenschieber wechselten in aller Ruhe 350 Ostmark in 100 D-Mark um und Vietnamesen verkauften stangenweise unverzollte Zigaretten. Es herrschte stets ein buntes Treiben. Und obgleich ständig gegen mindestens ein halbes Dutzend DDR-Gesetze verstoßen wurde, fehlte von den einst allgegenwärtigen und gestrengen Volkspolizisten jede Spur.
"Die Volkspolizisten schauten höflich weg"
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – dies schien das Motto der Volkspolizei in dieser Zeit gewesen zu sein. Denn Schwarzmärkte wie auf dem Alexanderplatz hatten sich überall in der untergehenden DDR fest etabliert. Doch nicht nur an "Verstößen gegen das Devisengesetz", an Schwarzhandel und Hehlerei sahen die Ordnungshüter geflissentlich vorbei. Raser und Drängler hatten auf den ostdeutschen Straßen weitestgehend freie Fahrt und Neonazis konnten in aller Öffentlichkeit die Arme zum Hitlergruß ausstrecken, ohne juristische Konsequenzen fürchten zu müssen. Und als etwa in Berlin-Friedrichshain ein Schlägertrupp in Häuser einbrach und die Bewohner bedrohte, ließ "die alarmierte Polizei", wie die "Berliner Zeitung" empört berichtete, "tapfer die Telefone klingeln, während die berauschten Randalierer" auch noch "umliegende Häuser zerlegten". Das war Alltag überall in der Republik.
Angst vor Konflikten
An sich hatte die Volkspolizei noch alle ihre einstigen Befugnisse und die Gesetze, um gegen Rechtsbrecher vorzugehen, waren keineswegs außer Kraft gesetzt. Doch "die Ereignisse um den 7. und 8. Oktober 1989", als die Polizei mit unverhältnismäßiger Härte gegen friedliche Demonstranten in Leipzig und Berlin vorgegangen war, "sitzen noch tief bei den Polizisten", entschuldigte der Chef der Polizeigewerkschaft, Hauptwachtmeister Guido Grützbach, im Herbst 1990 die Reserviertheit seiner Kollegen. Die Polizisten fürchteten sich, notfalls auch mit Gewalt gegen Kriminelle vorzugehen, weil sie Angst hätten, dass "die Gewalt wieder auf sie zurückschlägt", mutmaßte Grützbach. Und so würden die Ordnungshüter in brenzligen Situationen halt lieber gemeinschaftlich wegschauen.
Innenminister Diestel: "Identitätskrise der Volkspolizei"
In dieser Situation kam auch der damalige Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel, nicht umhin, generell eine "Identitätskrise der Volkspolizei" zu konstatieren. Da die Volkspolizisten in der Vergangenheit des Öfteren für "sachfremde Aufgaben eingesetzt" wurden, seien sie nun verunsichert. Schleunigst, so Diestel, müsste den Ordnungshütern "das notwendige Selbstbewusstsein" zurückgegeben werden. Dies gestaltete sich aber durchaus schwierig, weil die Volkspolizei andererseits in weiten Teilen der Bevölkerung ihre Legitimität und Autorität eingebüßt hatte. Sie galt schlechthin als der alte "Büttel der SED". Furcht hatte vor den einst Respekt einflößenden Polizisten, die jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst waren, auch keiner mehr, zumal auch Richter und Staatsanwälte ihre Arbeit im wesentlichen eingestellt hatten und nur noch der Dinge harrten, die da kommen mochten.
Rechtsfreier Raum im Osten
So war die dahinsiechende Republik tatsächlich eine Art rechtsfreier Raum, in der sich auch Bürger aus dem Westen des Landes reichlich tummelten. "Raser aus Westberlin haben den Berliner Ring als neues Ausfahrgebiet entdeckt", titelte etwa die "Bild"-Zeitung 1990. Zwar zeigten die Volkspolizisten auf den Autobahnen durchaus Präsenz, aber schrecken konnten sie die Westdeutschen mit ihren PS-starken Automobilen nicht im Geringsten.
Einen zweifelhaften Ruf erschrieb sich damals ein Reporter der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der mit Tempo 130 durch Dessau gebrettert war und 150 DDR-Mark Strafe zahlen sollte. Öffentlich rühmte sich der Journalist damit, die Geldbuße nicht gezahlt zu haben und stattdessen dem ostdeutschen Ordnungshüter eine deftige Lektion "in Sachen Rechtstaatlichkeit" erteilt zu haben, indem er Beweise für sein Vergehen forderte und Vernehmungsprotokolle samt Durchschriften. Selbstredend drohte er auch noch mit einer "Dienstaufsichtsbeschwerde", was den genervten Volkspolizisten, der möglicherweise auch Sorgen um seine berufliche Zukunft hatte, so schwer beeindruckte, dass er den Temposünder schließlich einfach weiterfahren ließ.
"Wir sind auf uns allein gestellt"
Die Lage der Polizei verbesserte sich auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 zunächst nicht. Denn nun waren die an sich schon verunsicherten Polizisten auch noch mit einer gänzlich neuen Rechtslage und gänzlich anderen Dienstvorschriften konfrontiert, die ihnen samt und sonders wenig bis gar nicht vertraut waren. "Wir wissen nicht, gilt das Gesetz noch, gilt es nicht mehr", klagte Mitte Oktober 1990 ein Wachtmeister in Wittenberg. Den Einigungsvertrag jedenfalls und die neuen Dienstvorschriften hätten sie noch nicht in der Hand gehabt. "Wir sind auf uns allein gestellt", schloss der Wachtmeister betrübt seine Ausführungen. Die wilden Jahre im Osten waren noch lange nicht vorbei...
Über dieses Thema berichtet der MDR auch in der Doku "Was wurde aus der Volkspolizei?": TV | 27.11.2018 | 22:05 Uhr