Massentierhaltung in der DDR Billiges Fleisch, schnelle Devisen und unerträglicher Gestank
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18. September 2022, 05:00 Uhr
Schweinemastanlagen in der DDR sollten möglichst schnell möglichst viel billiges Fleisch produzieren, um an Devisen aus dem Westen zu gelangen. Die Konsequenzen für die Menschen und Umwelt der betroffenen Dörfer sind verheerend. Bald gründet sich bei Neustadt an der Orla in Thüringen eine Umweltgruppe, die auf die Zustände aufmerksam macht.
Nur wenige Wochen nach dem Mauerfall lüften westdeutsche Reporter ein lange gehütetes Geheimnis. Das bundesdeutsche Fernsehen zeigt verstörende Bilder aus der untergehenden DDR. Die Sendung "Kontraste" berichtet von einer "Schweinerei mit Schweinen". Zu sehen sind Schweine, die in einer ostdeutschen Mastanlage qualvoll zur Schlachtung getrieben werden. Der Sprecher nennt das Vorgehen "alles andere als zimperlich".
Mit Stromstößen werden bis zu 1.000 Tiere des Nachts auf LKW verladen.
Eine der größten Schweinemastanlagen der Welt
Die Bilder stammen aus einer kleinen Stadt in einem Wald bei Neustadt an der Orla im heutigen Thüringen, unweit der Autobahn Berlin-München. Dort steht zu DDR-Zeiten eine der weltweit größten Schweinemastanlagen. Mit 185.000 Tieren werden tonnenweise Billigfleisch für den Westen produziert. 800 Mitarbeiter halten den Komplex am Laufen, der eine klare Aufgabe hat: die dringend benötigten Devisen zu erwirtschaften. 80 Prozent der Produktion gehen in den Westen. Die Schweinemast erbringt Umsätze in Millionenhöhe.
Unter strengster Geheimhaltung
Bereits Mitte der 1970er-Jahre hatte das Landwirtschaftsministerium der DDR die Konstruktion von solchen Mastkombinaten veranlasst. Tiermediziner Professor Hartwig Prange entwickelte sie mit und beschreibt im Gespräch mit MDR-Zeitreise den Aufbau der Anlage in Neustadt: "Hier sind die verschiedenen Stallbereiche, also hier die Jungsauen, Altsauen, Abferkelställe und immer, was im Wochenrhythmus passiert".
Errungenschaft des Sozialismus
Was heute Tierschützern ein Graus ist, gilt damals als hochmodern. Das Mastkombinat gilt eine wahre Errungenschaft des Sozialismus. Ein Team der besten Fachleute aus der ganzen Republik wurde mit der Aufgabe betraut, Methoden der "industriellen Schweinemast" zu entwickeln. Hartwig Prange ist einer aus diesem erlesenen Kreis. Die Ergebnisse sind so gut, dass die sowjetischen "Genossen" davon profitieren sollen: Sein Standardwerk über die "industrielle Schweinemast" erscheint damals sogar auf Russisch in der Sowjetunion. So gilt der berühmte Spruch an dieser Stelle einmal in umgekehrter Richtung: Von der DDR lernen, heißt siegen lernen. Doch betreten darf Prange seine selbst entwickelten Anlagen nie. Mastkombinate unterliegen in der DDR der strengsten Geheimhaltung.
Gülle ohne Ende
Mastanlagen wie die bei Neustadt verursachen ein riesiges Problem: "Die Gülleaufbereitung des Betriebes. [...] Ein natürliches Teichsystem wurde zerstört. Hier verbleibt die Brühe ein Jahr", berichtet "Kontraste" über die dortige Schweinemast.
Die Aufbereitung erfolgt unter freiem Himmel, und Gülle fällt in riesigen Mengen an. Ein Gestank bis zum Brechreiz. Jauchegruben soweit das Auge reicht.
Einige Einwohner erinnern sich an die Zeiten vor dem Mauerfall zurück, als die Mastanlagen noch in Betrieb waren. Hartwig Purfürst wohnt nur 300 Meter entfernt. Er erinnert sich: "Es hat gesundheitlich schon Folgen gehabt, es hat Einschränkungen gebracht im ganzen Leben. Man konnte keine Wäsche mehr aufhängen, man konnte kein Fenster mehr aufmachen. Es war ein fürchterlicher Gestank, der einen belastet hat".
Reinhard Weidner ist damals Pfarrer der hiesigen Kirchengemeinde und fügt hinzu:
Ein Besucher hat mir damals gesagt: Ich musste mich anschließend duschen, ich habe immer diesen Geruch in der Nase gehabt. Ich bin den nicht losgeworden, ich dachte, der ist in die Haut eingezogen.
Massentierhaltung gilt damals als fortschrittlich. Mit den Umweltschäden rechnete zunächst niemand. Nicht nur den Anwohnern macht der Gestank zu schaffen: Die Ammoniakgase, die aus den Güllelagunen und Ställen entweichen, lassen die umliegenden Wälder absterben. Die Felder sind hoffnungslos überdüngt.
Aktivismus gegen die Gülleverschmutzung
Doch bald regt sich Widerstand: Ab Mitte der 1980er wollen sich die Anwohner damit nicht mehr abfinden. Die Jugend sieht ihre Zukunft mit der Gülle regelrecht davonschwimmen – und gründet eine Umweltgruppe, die die Schäden dokumentiert und an die Öffentlichkeit tragen will.
Mit dabei ist auch Pfarrer Reinhard Weidner aus dem benachbarten Dittersdorf. Er beschreibt, wie er mit den Umweltaktivistinnen und -aktivisten versucht, auf den Missstand aufmerksam zu machen:
Über Kirchentage, über verschiedene Umweltseminare, da sind wir hingefahren, da haben wir uns eingebracht. Ich habe dann einen Lichtbildervortrag zusammengestellt und wurde an verschiedene Orte dann eingeladen, ob nach Schwerin oder Eisenach, zu Umweltseminaren oder Ökoseminar.
Auf diesen Seminaren machen viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer große Augen, denn über die Existenz solcher Anlagen ist bis dahin kaum etwas bekannt.
Zielscheibe der Staatssicherheit
Die Umweltschäden werden immer größer – und die Gruppe um Pfarrer Weidner immer aufmüpfiger. In Anlehnung an die berühmten Ostermärsche veranstaltet sie einen Osterspaziergang. Die Aktivisten ziehen damit die Aufmerksamkeit der Stasi auf sich, die ein paar schlecht getarnte Spitzel vorbeischickt. "Im Grunde haben sie sich lächerlich gemacht", spöttet Pfarrer Weidner.
Die Stasi aber meint es ernst. In Weidners Kirche in Dittersdorf schreiben Stasi-Leute die Predigten mit. Am Pfarrhaus parkt ein auffälliger Lada, die Besucher werden notiert, IMs in die Gruppe eingeschleust. Nicht ohne Grund, denn in Untergrundzeitschriften erscheinen erste Artikel über die Umweltkatastrophe. Weidner bekommt Besuch von zwei Stasi-Offizieren. Sie werfen ihm unter anderem Rädelsführerschaft, Sabotage und Agententätigkeiten vor.
Es hieß nur: Ihr Maß ist voll. Wann wir zugreifen, liegt nur noch an uns. Es kommen für Sie zwischen 10 bis 13 Jahre Zuchthaus zusammen [...]. Und da war ich erstmal sprachlos – und die beiden Herren gingen.
Vorabend der Friedlichen Revolution
Der Druck wird unerträglich: Pfarrer Weidner stellt einen Ausreiseantrag und darf Anfang 1989 gehen. Doch der Erfolg der Stasi währt nur kurz. Denn mit der Friedlichen Revolution bekommen die Umweltschützer, die noch vor Ort geblieben sind, neuen Auftrieb. Tausende Bürger beteiligen sich nun an den Protesten gegen das Mastkombinat. Kurz vor der Wiedervereinigung beschließt die letzte DDR-Regierung das Aus der Anlage. 1991 verlassen die letzten Schweine die Ställe.
30 Jahre später ist nur noch schwer vorstellbar, dass es in dem kleinen Städtchen einst ganz anders aussah – und roch. Die ehemaligen Gülleteiche sind mittlerweile renaturiert und ein bedeutender Rastplatz für zahlreiche Zugvogelarten. Radler und Angler kommen gerne her.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 18. September 2022 | 22:20 Uhr