Solidaritätsbekundung für die disqualifizierten DDR-Rennrodlerinnen 1968
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Der Skandal bei den Olympischen Spielen 1968

08. Februar 2011, 15:56 Uhr

"Jetzt bist du die Größte, nämlich Olympiasiegerin, wenige Minuten später bist du nix. Disqualifiziert!". Bei den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble gab es einen Skandal um die DDR-Rennrodlerinnen. Aber wer war der Betrüger?

Zwei Läufe auf der Rodelbahn in Grenoble waren absolviert, und die Damen des DDR-Teams lagen vorn: Ortrun Enderlein auf Platz Eins, Anna-Maria Müller auf Platz Zwei und Angela Knösel auf dem vierten Platz. Ein Doppelsieg für die DDR, vielleicht sogar ein Dreifachsieg – das hätte die Bewertung der damals von vielen Staaten diplomatisch noch nicht anerkannten kleinen deutschen Republik positiv beeinflusst. Vor dem dritten und entscheidenden Lauf aber will der polnische Offizielle Lucian Swiderski bemerkt haben, dass die Kufen des Schlittens von Ortrud Enderlein wärmer gewesen seien als die anderer Teilnehmer.

Zum Sieg mit der Lötlampe?

Das künstliche Beheizen der Kufen (noch bei Olympia 1964 war es ein übliches Verfahren) hatte der Internationale Rodelverband verboten. Swiderski, gleichzeitig stellvertretender Chef des Internationalen Schlittensportverbandes, hatte die angeblich warmen DDR-Schlitten moniert. Aus heutiger Sicht ist es hanebüchen, welchen unglaublich subjektiven Ermessensspielraum der "Test" bot: Swiderski prüfte die Kufen mit der Hand und ließ dann Schnee auf die Kufen rieseln. Blieb er liegen, waren die Kufen kalt, schmolz er, musste es sich um einen Betrugsversuch handeln.

Mit den Worten Frieden und Freundschaft waren sie gekommen, als elende Lügner und Betrüger mussten sie sich aus dem Staube machen. Man kann nur hoffen, dass die Welt es schnell vergisst.

Zitat aus der bundesdeutschen Presse

Swiderski machte also den sogenannten "Schneetest", ließ dann die Schlitten in den Schnee stellen zur Abkühlung und gab anschließend Gerät und Sportlerin zum Start frei. Erst nach diesem Lauf wurde das DDR-Trio disqualifiziert. Die Goldmedaille kassierte Erika Lechner aus Italien, und bundesdeutsche Sportlerinnen rückten auf die Medaillenränge vor. Die DDR protestierte und musste sich hämische Kommentare gefallen lassen. Da war vom "Kombinat heiße Kufe" die Rede, und vom "größten Skandal der Olympischen Geschichte". Die bundesdeutsche Presse schrieb: "Mit den Worten Frieden und Freundschaft waren sie gekommen, als elende Lügner und Betrüger mussten sie sich aus dem Staube machen. Man kann nur hoffen, dass die Welt es schnell vergisst."

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"Unfair Play" der Funktionäre

Die DDR-Sportoberen ihrerseits tobten. Sie sprachen von "Schweinerei", protestierten und unterstellten der bundesdeutschen Sportführung unter Willi Daume intrigantes Verhalten und Missgunst. Daume giftete zurück: "Welch eine Infamie: Die Betrüger klagen die Betrogenen an!" 2006 aber tauchte ein 37-seitiges Dossier in den Stasi-Akten auf, das einige interessante Hinweise enthielt. Kombiniert mit Befragungen noch lebender Zeugen ließen sie nur einen Schluss zu: Die Sportgeschichte muss im Fall dieses Skandals umgeschrieben werden. Fakt ist, dass die DDR-Frauen auf das Siegertreppchen in Grenoble gehört hätten.

Urlaub statt Kongress des Rodelverbandes

Der polnische Offizielle Swiderski, der die warmen Kufen beanstandet hatte, war im Vorfeld der Olympischen Spiele zu einem Kongress nach Österreich eingeladen worden. Doch dieser Kongress hatte überhaupt nicht stattgefunden. Swiderski machte stattdessen einen gut bezahlten Urlaub in der Alpenrepublik. Die von ihm als Zeuge, Ankläger und Jurymitglied durchgesetzte Disqualifikation der DDR-Rodlerinnen war möglicherweise inszeniert. 1968 noch wurde er zitiert mit der Aussage "Es ist mir unangenehm, dass die Fahrerinnen einem mir befreundeten Verband angehören". Für die Stasi allerdings galt Swiderski schon damals als einer, der keinen Hehl aus seiner DDR-feindlichen Haltung machte.

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete 2006 von einem noch lebenden Zeitzeugen, der Swiderski beim Start des Männerwettbewerbes der Rennrodler beobachtet hatte: Auch dort machte er den "Schneetest", auch dort sei der Schnee geschmolzen. Aber Swiderski reichte keinen Protest ein. Weil der Sportler ein Österreicher war? Nach dem Skandal von Grenoble wurde jedenfalls – auf Antrag der DDR – ein Temperaturmessgerät für die Kufen eingeführt.

Keine offizielle Untersuchung

Die Verbände von heute haben kein Interesse an einer Aufklärung der damaligen Vorgänge. Einige Hauptbeteiligte sind bereits verstorben, so die 1968 um eine Silbermedaille gebrachte Anna Maria Müller. Immerhin: Sie konnte sich 1972 in Sapporo Genugtuung verschaffen durch einen anerkannten Olympiasieg. Ortrun Enderlein hingegen beendete ihre Karriere nach der Olympiade von Grenoble in tiefer Zerknirschung: "Man hat mich als Betrügerin hingestellt, mir also einen Meineid unterstellt. Dabei habe ich nichts gemacht, 200-prozentig nicht. Ich habe lange daran geknabbert. Aber eigentlich will ich gar nicht mehr daran denken."

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