Egon Bahr, Berater des letzten Verteidigungsministers der DDR

08. März 2018, 15:46 Uhr

Die letzte DDR-Regierung holte 1990 westdeutsche Berater nach Berlin. So bat DDR-Verteidigungsminister Eppelmann den SPD-Politiker Egon Bahr zu sich. Zu ihren gemeinsamen Aufgaben gehörte die Auflösung der NVA.

Egon Bahr, der 1963 den Begriff vom "Wandel durch Annäherung" geprägt hatte und als "Architekt der Ostpolitik" der Regierung von Willy Brandt gilt, erhielt im Mai 1990 einen Anruf von Rainer Eppelmann, der gerade zum Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR bestellt worden war. Eppelmann fragte, ob er sein Berater werden möchte. Auf Bahrs vorsichtigen Einwand, ob denn CDU-Ministerpräsident de Maiziere damit einverstanden sei, antwortete Eppelmann: "Wen ich mir hole, bestimme ich selbst!" Als die beiden sich einige Tage später trafen, bot Eppelmann Bahr einen Zweijahresvertrag an. Bahr schlug vor, den Vertrag zunächst nur bis zum Jahresende laufen zu lassen. Eppelmann willigte ein, und so begann der Abrüstungsexperte Egon Bahr, der damals das Hamburger "Institut für Friedensforschung" leitete, am 5. Juli 1990 seine Tätigkeit im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR in Strausberg bei Berlin.

Übergangszeit von zwei bis vier Jahren

"Als ich die Einfahrt zum Verteidigungsministerium passierte, dachte ich, vor wenigen Monaten noch hätte mir dafür wohl Verhaftung gedroht", erinnert er sich an seinen ersten Arbeitstag. Bahr hatte die Aufgabe, die Verhandlungen seines Ministeriums mit der Bundesregierung vorzubereiten und dessen Interessen in den "Zwei-plus-vier-Gesprächen" zu vertreten. In den Papieren seines Arbeitgebers las Bahr mit Verwunderung, dass man von einer Übergangszeit von "zwei bis vier Jahren" ausging. Die NVA sollte in dieser Zeit reformiert und zu einem "Vorbild der Abrüstung" werden.

Zwei Armeen in einem vereinten Deutschland

Eine Abschaffung der NVA war hingegen überhaupt nicht in Betracht gezogen worden: "Es wird auch nach der Vereinigung auf DDR-Territorium eine zweite deutsche Armee geben", erklärte Rainer Eppelmann noch Anfang Juli 1990. Diese Auffassung hielt Bahr für untragbar: "In einem vereinten Staat wird es natürlich nur eine vereinte Armee geben", stellte er umgehend öffentlich klar. Zu einem Eklat kam es nur deshalb nicht, weil das Ergebnis der Gespräche zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow am 17. Juli im Kaukasus alle Planungen der NVA-Generale zu Makulatur gemacht hatte: Mit der deutschen Einheit, so war beschlossen worden, würde die NVA von der Bundeswehr übernommen werden.

"Ungeliebtes Kind der Einheit"

Die ostdeutsche Armee bezeichnet Bahr in seinen Memoiren als ein "ungeliebtes Kind der Einheit, trotz oder gerade wegen der beträchtlichen Mitgift von rund 80 Milliarden D-Mark". So viel immerhin war ihr "bewegliches Material" wert gewesen. Das Bundesverteidigungsministerium ließ Bahr damals wissen: "Es wäre verdienstvoll, wenn wir so viel wie möglich davon bis zum 3. Oktober 1990 loswerden könnten." Und so geschah es auch. "Nur einige waffentechnische Leckerbissen wurden gerettet", so Bahr.

"Die Einheit kam zur rechten Zeit", konstatiert er Jahre später, "um der Bundeswehr und der Wirtschaft Abrüstung zu ersparen - das Material der NVA leistete im wesentlichen die Abrüstung für Deutschland, zu der wir im Rahmen der Wiener Verhandlungen verpflichtet wurden. Die alte Bundeswehr schränkte sich um zehn Prozent ihrer Soldaten ein, bei der NVA blieben zehn Prozent übrig, darunter nicht ein einziger General."

NVA-Generale werden nicht übernommen

Bis September 1990 hatten Eppelmann und Bahr noch damit gerechnet, dass acht von ihnen ausgewählte jüngere Generale der NVA von der Bundeswehr übernommen werden. "Wenn hohe Offiziere der Wehrmacht für geeignet gehalten worden waren, beim Aufbau der Bundeswehr mitzuwirken", so argumentierte Bahr, "sollte das auch für Offiziere der NVA gelten." Doch Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg stellte unmissverständlich klar, dass das nicht ginge: Die Soldaten der Bundeswehr, so der Minister, würden sich nicht von ehemaligen NVA-Generalen Befehle erteilen lassen wollen.

Nicht einmal ein "symbolischer Akt der Würde"

Als Rainer Eppelmann seinem Amtskollegen Stoltenberg am 3. Oktober 1990 in Strausberg die NVA der Bundeswehr übergab, "verweigerte die westdeutsche Seite der ostdeutschen den symbolischen Akt der Würde, die alte Flagge einzuholen und die neue zu hissen", erinnert sich Bahr. Ebenso wurde darauf verzichtet, "den Einschnitt auch musikalisch durch das Abspielen der alten und dann der neuen Hymne zu markieren. Die Rede Eppelmanns anlässlich der Übergabe vergaß man zu drucken. Viele Offiziere aus dem Westen hatten ihre Frauen mitgebracht - es war ja auch ein toller Anlass! Die in die Bundeswehr übernommenen Offiziere aus dem Osten waren hingegen ohne weibliche Begleitung. Vielleicht hatte man einfach vergessen, sie einzuladen..."

"Verschrottet, eingeschmolzen, abgewickelt"

Die zwei Armeen tatsächlich zusammenwachsen zu lassen war nach den Modalitäten des Beitritts nach Artikel 23 des Grundgesetzes nicht möglich gewesen. "Es wurde übernommen, verschrottet, eingeschmolzen, abgewickelt, aufgelöst, übergeben", resümiert Bahr. "Insofern passierte der NVA nichts anderes als dem Land und seinen Menschen insgesamt, die mit großer Mehrheit so schnell wie möglich Bundesbürger werden wollten." Bahr selbst räumte an jenem 3. Oktober seinen Schreibtisch, gab die Büroschlüssel ab und fuhr nach Berlin. Die Einladung zum Staatsakt hatte er vorher schon abgesagt, "um die gedämpfte Freude über diesen großen Tag in den Straßen meiner Stadt und unter ihren Menschen still zu genießen."

(Zitate aus: Egon Bahr: Zu meiner Zeit; Karl Blessing Verlag, 1996)