Geschichte einer Sendung "Umschau": Vom Wissenschafts- zum Verbrauchermagazin
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18. November 2021, 16:13 Uhr
Das Jahr 1961: Im April startet Juri Gagarin als erster Mensch in den Kosmos. Im August wird die Mauer gebaut. In diese bewegte Zeit hinein gründet der Deutsche Fernsehfunk der DDR eine neue Sendung: Die "Umschau".
"Wenn in Zukunft unsere Wohnungen nur noch aus drei Typen von Raumzellen zusammengesetzt sein werden, gibt das nicht eine gewisse Gleichförmigkeit?", fragt die Reporterin mutig, nachdem ein Vertreter der Bauakademie umständlich erläutert hat, was er "eine neue Etappe sozialistischen Wohnungsbaus" nennt. Er hat ein Modell mitgebracht: Kleine Container, die er in Windeseile übereinander schichtet. Die Plattenbauweise sei schon sehr erfolgreich, aber in Zukunft würden ganze Zimmer bereits im Werk komplett fertig montiert:
"Einschließlich Heizung, Elektroinstallation und Malerarbeiten."
Mit dieser Szene beginnt die erste "Umschau", die im Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam Babelsberg zu finden ist. Ein Bericht aus dem VEB Grubenlampenwerke Zwickau schließt sich an. Dort wurde die Leistung von Knopfzellen-Akkus erheblich verbessert. Jetzt kann man mit ihnen nicht nur Taschenlampen, sondern sogar Camping-Rasierapparate betreiben.
"Die Umschau sollte die Leistungen der einheimischen Industrie popularisieren und den eigenen Wissenschaftlern eine Plattform bieten, auf der sie ihre Ideen und Leistungen verkünden konnten", sagt Wolfgang Mertin, der die Sendung bis 1973 moderierte: "Außerdem ging es darum, die Überlegenheit der sozialistischen Wissenschaft gegenüber dem Kapitalismus zu demonstrieren, was uns immer schwerfiel, denn wir hatten ja nicht so leuchtende Beispiele, wie wir sie in den Wissenschaftssendungen des westdeutschen Fernsehens sehen konnten. Ich beneidete immer Hoimar von Ditfurth. Was der für Dinge anpackte, da reichten wir nicht ran."
"Umschau" zeigt junge Arbeiter mit frischen Ideen
Die "Umschau" beschäftigt sich oft mit den Ideen, die junge Leute in den Betrieben entwickeln, um ihre Arbeit effektiver zu gestalten. Ein sogenanntes "Neuerer–Kollektiv" im VEB Wäscherei Dresden denkt sich zum Beispiel eine zeitsparende Methode beim Wäsche-Ausbessern aus. Die Sendung vom März 1966 führt sie vor: Löcher in Tischdecken oder Bettbezügen müssen nicht mehr mühsam gestopft werden. Stattdessen wird ein selbst klebender Flicken aufgebügelt, der kaum zu sehen ist und jeder Wäsche stand hält. Berichte aus der Sowjetunion gehören in fast jeder Sendung dazu. Im dortigen Fernsehen gibt es seit Jahren eine Reihe mit dem Titel "Aus Wissenschaft und Technik". Aus diesem Material kann die Umschau schöpfen. Die Filme zeigen zum Teil verblüffende Experimente: Ein Forscher-Ehepaar in der Stadt Krasnodar macht mit Hilfe eines Spezialfilms sichtbar, was dem bloßen Auge verborgen bleibt: Jede lebende Pflanze sendet elektrische Entladungen aus. Die Zuschauer können funkensprühende Blätter bewundern.
Innovatives aus dem Bruderstaat
Ein Moskauer Institut stellt fest, dass Maden zu neuem Leben erwachen, nachdem man sie längere Zeit tiefgefroren hat. Diese Entdeckung scheint wichtig, weil sie die Hoffnung aufkommen lässt, auch der Mensch könne möglicherweise in Kälteschlaf versetzt werden, um ferne Planeten zu erobern: "Die Phantasie der Leute anzuregen, das gehört auch in der Wissenschaft dazu. Wenn man das nicht tut, hat man vieles verschenkt.", sagt Manfred Vieweg, damals noch Redaktionsassistent. In dieser Hinsicht scheinen die "Umschau"-Redakteure zunehmend mutiger zu werden: "Wird der Mensch das Meer besiedeln?", "Wie fotografiert man im Jahr 2000" oder "Die Lösung des Ernährungsproblems der Welt" sind einige Themen, mit denen sich die Sendung in den folgenden Jahren auseinandersetzt. Kritisch ist sie dabei nie: Die ersten gentechnischen Versuche oder der Export von radioaktivem Material gelten als Beweis für die Leistungsfähigkeit der DDR, werden aber nicht hinterfragt.
Die Neuausrichtung: Menschen statt Maschinen
Als Erich Honecker in seiner Rede auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 anmerkt: "Das Fernsehen ... sollte seine Programmgestaltung verbessern, eine bestimmte Langeweile überwinden", da geht ein Ruck durch den Fernsehbetrieb in Berlin Adlershof. Auch die "Umschau" muss Kritik einstecken. Vor allem die Berichte aus der Produktion sind zu technisch und für Laien oft unverständlich. Maschinen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung, aber kaum Menschen. Das soll sich nun ändern. Die Wissenschaftsredaktion bekommt einen neuen Chef und Moderator: Otto Dienelt. Der ist zwar auch ein Techniker, er hat bei Carl Zeiss in Jena Feinmechanik gelernt, sich inzwischen aber mit einigen sehr spannenden Fernseh-Dokumentationen unter Fernsehleuten einen Namen gemacht. Mit ihm beginnt die Zeit der Reportagen vor allem über medizinische Themen.
Privates wird öffentlich
Zum ersten Mal seit es die "Umschau" gibt, stehen persönliche Schicksale im Mittelpunkt der Berichterstattung: Ein Ehepaar, dessen Beziehung zu scheitern droht, weil sie seit Jahren kein Kind bekommen können. Reporter begleiten den ärztlichen Notdienst bei der Rettung von Herzinfarkt-Patienten. Eltern behinderter Kinder dürfen ihre Probleme öffentlich machen. Als ein Beitrag im Januar 1975 erwähnt, dass ein Großteil der städtischen Bevölkerung der DDR unter Schlafstörungen leidet, trifft eine Flut von Zuschauerpost in der Redaktion ein. Die Leute möchten wissen, was man dagegen tun kann. Bereits drei Monate später erfahren sie, wie man Stress bedingte Schlafstörungen mit Hilfe von autogenem Training behandeln kann. Natürlich muss die "Umschau" auch weiter über die Erfolge der einheimischen Industrie berichten. Aber sie tut es nun unterhaltsamer und die Zuschauer mögen das offenbar.
Man kann es in den sogenannten "Sendebüchern" nachlesen. Handschriftlich ist hier jeder einzelne Filmbeitrag notiert. Auch die sogenannte "Sehbeteiligung", die statistische Erfassung der Einschaltquoten. Mitte der 1970er-Jahre steigen die Quoten an. 1977 werden die Amateuraufnahmen eines Elektromeisters veröffentlicht, der sich in geduldiger Arbeit mit einer Rotte Wildschweinen vertraut gemacht hat, bis er von ihnen als ein Mitglied anerkannt wird. Er filmte die ersten Begegnungen mit den Tieren und kann sogar dabei sein, als eine Bache Frischlinge hat. Das Material hatte die Redaktion günstig eingekauft. Als es am Abend des 25. Dezember ausgestrahlt wird, schauen 50 Prozent aller Zuschauer der DDR die "Umschau" an. Solche Einschaltquoten haben sonst nur Unterhaltungsprogramme wie "Ein Kessel Buntes" oder "Polizeiruf 110".
Die Stagnation der Wirtschaft spiegelt sich im Wissenschaftsmagazin
Wenn ein solches Ergebnis auch nicht wiederholt werden kann, der Erfolg der Sendung hielt etwa ein Jahrzehnt an. Ab Mitte der 1980er-Jahre wurde es für die Redakteure schwieriger, aus Wissenschaft und Technik zu berichten: "Das Themenfeld war erschöpft", erzählt Eva Mühlberg, die seit 1973 in der Redaktion arbeitete: "Man merkte jetzt, dass das Land eine Mauer hatte. Alle Neuigkeiten bezogen sich auf die kleine DDR. Und von den Russen kam auch nicht mehr viel."
Wolfgang Mertin, der zu dieser Zeit Korrespondent in Moskau war, weiß warum: "Weil die gesamte sowjetische Wirtschaft stagnierte. Wirtschaft ist ja Grundlage für die Wissenschaft. Was sich jetzt in der DDR vollzog, hatte sich vorher auch in der Sowjetunion vollzogen. Wie im Politbüro saßen ältere ergraute Herren vor den Instituten und ließen keine Möglichkeiten für junge Wissenschaftler, ihre Projekte zu realisieren. Die Wissenschaft war dann stark, wenn sie in militärischen Bereichen Wirkungen brachte. Da wurden die Institute gefördert. Aber das waren keine Themen, die in der 'Umschau' behandelt wurden."
Die Themen der "Umschau" wirken in dieser Zeit banal: In Bulgarien wird eine neue Tomatensorte gezüchtet, mit oranger Farbe und widerstandsfähiger als ihr roter Bruder. Die Jugendbrigade eines Betriebes hat Fitnessgeräte aus Altmetall zusammengeschweißt. Sogar ein Huhn, das grüne Eier legt, wird zum Thema. Was die Menschen in dieser Zeit wirklich bewegt, hat nicht mit Wissenschaft zu tun und ist vorläufig nicht in der Umschau zu sehen. Auf den Straßen demonstrieren die Bürger. Solche Vorboten der Wende sind unübersehbar und werden in der Redaktion diskutiert. Mancher möchte kritische Themen anpacken, aber noch geht das nicht.
Endlich frei berichten können
Dann kommt der 9. November 1989 und alles ändert sich schlagartig. Noch im selben Monat beginnt "Umschau"-Reporter Peter Gütte mit den Dreharbeiten zu einer Reportage, die er schon im Januar vorgeschlagen hatte, aber bis dahin nicht realisieren durfte. Er will herausfinden, warum in den Geschäften der DDR so viele Ladenhüter übrig bleiben. Er wählt als Beispiel die Damenmode. Warum kaufen die Leute die Blusen, Röcke und Mäntel aus einheimischer Produktion nicht? In allen Betrieben werden er und sein Team begeistert empfangen. Die Menschen sind dankbar, dass sie endlich unverblümt vor der Kamera reden können: "Jeder nächste Tag war anders.", erinnert sich der Reporter: "Wir haben uns als Journalisten plötzlich in dieser neuen Zeit bewegt. Das war so spannend. Es gab kein geschichtliches Vorbild für das, was sich in der Wendezeit abgespielt hat bis zur Vereinigung."
Im "Umschau"-Studio sitzt noch immer Otto Dienelt. Doch sind die Berichte, die er nun ankündigt, ganz andere als zuvor: "Die DDR ist einer der größten Umweltverschmutzer der Welt", heißt es, oder "Die Altstadt von Görlitz hat nie einen Krieg erlebt aber heute scheint es, als hätte er doch hier gewütet." Einige Monate wird die "Umschau" zu einer Sendung, die schonungslos und beinahe wütend mit den alten Zuständen abrechnet.
Nach der Abrechnung beginnt das Umdenken
Nachdem das getan ist, beginnen die Redakteure erneut umzudenken: "Neues aus Wissenschaft und Technik wurde ja nicht mehr gefragt.", sagt Eva Mühlberg: "Das Publikum wollte informiert werden über alles Neue, was es früher nicht gab. Plötzlich gab es andere Versicherungen, andere Krankenkassen, andere Banken und Kredite, andere Rechte und Pflichten. Wir wollten ein bisschen Lebenshilfe geben, damit sich die Zuschauer, die uns kannten und uns vertrauten, gegenüber dieser neuen Welt wehren konnten. Wir waren jetzt alle Verbraucher. Also haben wir diese Strecke bearbeitet. Was hätten wir sonst bringen sollen? Kurzberichte aus aller Welt waren nicht mehr nötig. Die Welt lag uns ja jetzt zu Füßen!"
Im Dezember 1992 wurden beim Deutschen Fernsehfunk die Tore geschlossen. Die Umschau war eine der wenigen Sendungen des ehemaligen DDR-Fernsehens, die übernommen wurde. Im Januar 1992 startete sie als Wirtschafts– und Verbrauchermagazin im MDR Fernsehen in eine neue Etappe.
Dieses Thema im Programm: Umschau | 18. Mai 2021 | 20:15 Uhr