Die "Stones" endlich in Leipzig!
Und dann geschah das Wunder. 1995, zwanzig Jahre nach dem Verbot unserer Diskothek, kamen die "Stones" an den Ort des Geschehens. Sie spielten auf der "Festwiese" neben dem Zentralstadion, auf der ich mich Jahrzehnte zuvor im Sportunterricht mit Ausdauerlauf und Staffelspielen gequält hatte. Dort, wo früher Turnfeste stattfanden oder die Mitglieder der paramilitärischen "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST) bei Wettläufen unter Gasmasken ihre Überlegenheit vor dem Feind zeigten, standen Mick und Keith vor 80.000 Menschen auf der Bühne. Hinter der Bühne sah ich meine einstige Schule. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben des Lehrerzimmers.
"Einige alte Männer wackelten rhythmisch mit dem Kopf"
Percussion setzte ein, Lichtblitze zuckten über den Abendhimmel. "Here is the greatest Rock'n Roll Band of the world", schrie ein Mann hysterisch in sein Mikrophon und eine Schlange über der Bühne spie Feuer. "Sympathie for the devil". Zu meiner Verwunderung gab es niemanden, der mitsang, keiner tanzte, die meisten Zuschauer waren Ehepaare, die Hand in Hand ordentlich nebeneinander standen, und sich benahmen, als erlebten sie einen gemeinsamen Fernsehabend. "I can't get no satisfaction". Ich dachte an die dilettantischen Tattoos auf unserer Haut und an die ungezählten Stunden vor dem Radio, an die Diskotheken, meine Auftritte an der Lichtorgel und an die Männer, die unseren Projektor beschlagnahmt hatten.
In den ersten Reihen wackelten einige alte Männer rhythmisch mit dem Kopf. Keith Richards winkte ihnen zu, lief zum Bühnenrand und ging in die Knie, tiefer, immer tiefer, und ich atmete auf, als er wieder stand. Auf der Videowand wechselten die Bilder im Sekundentakt. Ich sah die Queen aus dem Auto steigen, die Comicfigur von "Honky Tonk Women" auf einer meterlangen Zunge reiten, dann wieder Mick selbst.
"Love is strong"
Es fiel mir immer schwerer, den Bildern auf der Videowand zu folgen. Mich nervten die Scheinwerferblitze über unseren Köpfen, die Hektik auf der Bühne. Nach der Hälfte des Konzertes hoffte ich nur noch, dass alles schnell vorüberginge. "Love is strong". Als sich die Band am Ende verbeugte, war ich unfähig, zu klatschen. Feuerfontänen schossen in den Himmel, der Lichtregen ergoss sich über meine alte Schule. In den Rauchwolken sah ich die Positionslichter eines davonfliegenden Helikopters.
Zwanzig Jahre zu spät
In geordneten Reihen verließ ich mit den anderen das Stadion. Niemand sang, niemand randalierte, es gab nicht einmal einen Betrunkenen. Neben meiner Schule stand ein Polizeiauto. Kein Wartburg wie früher, aber noch immer waren die Autos grün-weiß. Ich ging darauf zu, und der Polizist sah mich an, als erwartete er, dass ich ihn nach dem Weg fragen würde. Er zuckte zusammen, als ich zu schreien begann: "Ihr Bullen, ihr Schweine! Ihr seid an allem Schuld!" Ich war bereit, ihm die Knöpfe abzureißen und die Schulterklappen. Ich wollte ihm die Mütze vom Kopf schlagen und mich wegen "Beleidigung der Staatsorgane" verhaften lassen. Doch der Polizist hob beschwichtigend die Arme, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: "Reg dich nicht auf, ich versteh dich ja!"
Kurzbiografie der Autorin
Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Nach einem Ingenieur-Studium studierte sie von 1985 bis 1988 am Leipziger Literaturinstitut und veröffentlichte Hörspiele und Erzählungen.
1989 Beginn der journalistischen Arbeit für die unabhängige Wochenzeitung "Die andere Zeitung" (DAZ), dann erste Hörfunk-Dokumentationen. Seit 1992 ist sie Feature-Redakteurin bei MDR FIGARO.
Kathrin Aehnlich ist Autorin und Regisseurin von zahlreichen Features und Dokumentarfilmen und schreibt Erzählungen und Romane. Ihr Roman "Alle sterben, auch die Löffelstöre" (2007) war ein Bestseller.
Eigentlich aber wäre Kathrin Aehnlich gern Rockmusikerin geworden: "Ich muss Bücher schreiben", sagt sie, "weil ich nicht singen kann."