Punk im Osten zum WGT Die Aliens der DDR
Hauptinhalt
27. Mai 2020, 14:13 Uhr
Sie gehört zu den legendärsten Punkbands der DDR: "Wutanfall". Doch schon kurz nach ihrer Gründung, Anfang der 80er-Jahre, bekommt die Band um Sänger Chaos die volle Härte der Stasi zu spüren. Wie viele in der jungen Szene werden die Jugendlichen von der Stasi bedroht, bespitzelt und physisch drangsaliert.
Grau, eintönig und dreckig – so sieht der Leipziger Westen Ende der 70er-Jahre aus. Dort, im Plagwitzer Industrieviertel, wächst Jürgen Gutjahr auf. Er ist damals 17. Punks gibt es noch nicht, dafür die "Bravo" und Westfunk: "Im Vergleich zu den anderen Sachen war Punk radikal. Und das hat mich sofort gereizt", erzählt Gutjahr rückblickend.
Auf der Suche nach Freiheit
Was Punk genau ist, weiß er noch nicht. Klar war nur eins: "Es war eine Verweigerung dem System, den Eltern und den Nachbarn gegenüber", so der heute 55-Jährige. Eine Lederjacke hat er damals noch nicht, dafür alte Klamotten von seinem Opa. Der Rest kommt aus dem Müll oder wird selbstgemacht. Jürgen will anders sein: "Für mich war die DDR absolute Tristes. Wenn du nicht linientreu warst, dann gab es im kreativen Bereich nicht viel zu tun. Das war der Auslöser zu sagen, ich mache jetzt einfach selbst etwas, das worauf ich Bock habe."
Geburtsstunde des Leipziger Punks
Noch ist die Szene überschaubar. Schnell lernt Jürgen auf Konzerten Uwe und Andreas kennen. Da Punkmusik damals Mangelware ist, gründen sie kurzerhand ihre eigene Band: "Wutanfall". Ab sofort heißen die drei Chaos, Rotz und Typhus. Die erste Punkband Leipzigs ist geboren. Wie man ein Instrument spielt, weiß keiner von ihnen. Trotzdem geben sie im August 1981 ihr erstes Konzert im Leipziger Plattenbauviertel Möckern. Ein Dutzend Leute kommen. Chaos singt, Typhus spielt auf einer selbstgebastelten Gitarre und Rotz hämmert auf einem Schlagzeug aus Blechfässern, Gurkengläsern und Plastikeimern. Alte Röhrenradios bauen sie zu Lautsprechern um. Der Name Wutanfall war Programm: Am Ende des Auftritts schlägt Chaos das umgebaute Radio mit einer Axt kurz und klein. So etwas hatte man noch nicht gesehen – geschweige denn gehört.
Das war der Wahnsinn, ein infernaler Lärm. Die Wände waren Nass von Schweiß und Hitze und ich bin völlig ausgetickt.
Im Visier der Stasi: Repressionen und Brutalität
Schon zwei Wochen später findet ihr zweites Konzert statt. Die Besucherzahl hat sich verdreifacht. Mit der wachsenden Fangemeinde wird allerdings auch die Stasi auf die Gruppe und die Subkultur aufmerksam.
Sie fängt an, verstärkt Informationen über die Szene zu sammeln. Wer als Punk auffällt, bekommt Probleme. 1981 werden zum ersten Mal Punks aufgrund ihres Aussehens festgenommen, verhört und registriert. Auch Chaos wird vorgeladen, schnell zum "Anführer" der Szene erklärt und eingeschüchtert.
Bei dem Verhör haben sie mir gesagt: ,Wenn du so weiter machst, können wir dir versprechen, dass dein Leben in der DDR vorüber ist.'
Die Druckmittel der Stasi: Entzug des Führerscheins, Verweigerung einer Wohnung und das Ende der beruflichen Karriere. Für Chaos steht nun all das auf dem Spiel. Doch er macht weiter. Immer häufiger steht nun ein Überwachungswagen mit Stasi-Beamten vor dem Proberaum, Konzerte werden aufgelöst, Überwachung und Verhöre nehmen zu. "Es ging der Stasi um die Wiedereingliederung in das sozialistische Weltbild. Also Punk-Sein aufgeben und unterordnen", so Jakob Geisler, der sich intensiv mit den Akten zum Thema auseinandergesetzt hat und die Leipziger Ausstellung "Wutanfall: Die Punkband im Visier der Stasi" kuratiert.
Im Winter 1981/82 kommt personell Bewegung in die Band. Imad, ein Gitarrist aus der Szene, spielt ab Winter 1981/82 für wenige Monate in der Band. Doch es gibt Streit. Er steigt aus. Dafür stößt wenige Monate später Zappa hinzu. Er kommt aus dem "Wutanfall"-Umfeld, spielt Bass und wohnt in der besetzten Sternwartenstraße. Sein Dachboden wird zum neuen Proberaum. Zum festen Freundeskreis gehört auch Stracke. Er kennt die Texte, ist von Beginn an bei den Proben und Konzerten dabei und bald selbst fester Bestandteil von Wutanfall.
Die Jugend zum Feind
Trotz der massiven Einschüchterungsversuche wächst die Szene. 1982 ist Punk in der DDR angekommen. Sogar Westmedien greifen die Bewegung im Osten auf. Das kann der Stasi nicht passen. Der DDR-Sicherheitsapparat reagiert. Im April 1982 legen sie eine erste Punk-Kartei mit Bilder und Namen an. Es folgen Auflagen, Verbote, Verhaftungen. Damit macht sich der Staat die eigene Jugend zum Feind. Auf einmal ist die Band "Wutanfall" Opposition. Sie fangen an, sich zu politisieren. "Aber so etwas wie Gegendemos, das war uns klar, würde auf keinen Fall gut gehen. Dann hätten sie ja einen Grund gehabt, uns einzuknasten. Darauf haben die nur gewartet", erklärt Chaos. Schutz finden die Punkbands in Kirchen, hier dürfen sie auftreten - in Sicherheit vor der Stasi.
Der Verrat
Doch der Druck wird immer größer. Informelle Mitarbeiter in der Szene liefern der Stasi Informationen zu geheimen Veranstaltungen, Fotos und sogar eine Kassette mit "Wutanfall"-Titeln. Um die jugendlichen Punks zu verunsichern, streut die Stasi Anfang der 80er-Jahre Gerüchte, dass sie eigene Leute in der Szene habe. Da ahnen Chaos und seine Bandkollegen noch nicht, dass die Stasi bereits erfolgreich war. Und zwar in der eigenen Band. Gleich zwei Bandmitglieder arbeiten für die Staatssicherheit: Imad und Zappa.
Imad war nur wenige Monate bei "Wutanfall". Ab 1982 ist er Informant für die Kriminalpolizei. Ein Jahr später liefert er Hinweise direkt an die Stasi. Auch Zappa steht auf der Lohnliste der Staatssicherheit, spätestens seit 1983. Sein Auftrag: "Er soll die Band von innen zerschlagen. So verhindert er Konzerte, weil er einfach nicht hinfährt oder lockt die Band beim Internationalen Sportfest 1983 aus der Stadt, damit die Band öffentlich nicht gesehen wird“, so Kurator Geisler.
Chaos und Zappa sind damals beste Freunde: "Mir ist bewusst, das hält nicht jeder aus. Aber der Vertrauensverlust ist das viel größere Problem. Er hätte so viele Chancen gehabt, es mir zu sagen. Aber bis heute gab es keine Entschuldigung", so der "Wutanfall"-Sänger. Über die Gründe kann Chaos nur mutmaßen: "Sie haben ihn wahrscheinlich auf die ein oder andere Weise gebrochen. Er hatte in der Sternwartenstraße eine illegale Wohnung, war kein Leipziger. Und dann hieß es eben: 'Wenn du uns hilfst, helfen wir dir mit der Wohnung und Geld für deine Berichte.'" So erhält Zappa mehrfach 100 und einmal 50 Mark für seine Informationen.
Die Akte "Stern": Zerschlagung der Band
Im Februar 1983 wird die Akte "Stern" angelegt. Es geht um die offizielle Zerschlagung von "Wutanfall". Damit verschärfen sich die Repressionen gegen die Band und vor allem gegen Chaos. Er ist einem regelrechten Verhör-Terror ausgesetzt: "Bei mir ging es soweit, dass ich bis zu vier Mal die Woche vorgeladen wurde. Einmal haben die mich sogar 17 Stunden lang verhört. Ich wurde auch mal 14 Tage weggesperrt." Seine Trotzigkeit habe ihn das wohl durchstehen lassen, so Chaos heute.
Doch es bleibt nicht bei psychischer Gewalt. Sie Stasi agiert mit äußerster Brutalität, wie Chaos erzählt: "Sie haben mich mal abgeholt, mir Handschellen angelegt. Ich sollte kooperieren. Da habe ich gesagt: 'Halt die Fresse'. Dann bekam ich einen Stoffsack über den Kopf, den haben sie hinten zugeschnürt. In einem Waldstück haben sie mich dann rausgezogen und verprügelt. Sie waren zu dritt, haben mir ins Gesicht getreten. Ich hatte mehrere offen Wunden. Das war für mich wie eine Nahtoderfahrung. Ich dachte, die legen mich hier um."
Zeitgleich werden Punks zur Armee einberufen, Ausreiseantragsteller in den Westen abgeschoben und Strafverfahren wegen minderer Delikte zu Schauprozessen. Selbst in Jugendzeitschriften wird die Subkultur als "faschistisch" diffamiert. Im gleichen Jahr befiehlt der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, "Härte gegen Punks". Unter diesem Druck zerbrechen einige Jugendliche, nehmen sich sogar das Leben.
Chaos steigt aus, die Repressionen gehen weiter
Im Oktober 1983 steigt Chaos aus. Der Druck, die Misshandlungen und Übergriffe der Stasi werden ihm zu viel: "Ein Grund war, dass der Stress auf einem unerträglichen Level war. Der andere Grund war allerdings, dass ich mich musikalisch anderweitig orientieren wollte, Richtung Noise und Power Electronic, also noch mehr Krach." In den darauffolgenden Jahren zerfällt die Band.
Doch mit seinem Ausstieg sind die Repressionen für Chaos nicht vorbei. Nach wie vor gilt er der Stasi als Multiplikator in der Szene. Strafverfahren und Ordnungsgelder reihen sich aneinander. Mitte der 80er-Jahre wird sein Personalausweis eingezogen, er bekommt stattdessen einen sogenannten PM-12-Ersatzausweis und gilt damit als vorbestraft; er kann ohne Angabe von Gründen verhört werden und wird in seiner Reisefreiheit massiv eingeschränkt. "Ich war wie vogelfrei", erzählt Chaos.
Punk und Chaos sind in der DDR-Öffentlichkeit nicht erwünscht. Ab sofort darf er ohne Genehmigung nicht mehr raus aus Leipzig und bekommt sogar Innenstadtverbot. Und selbst bis in seine Wohnung dringt der Stasi-Terror vor. Unzählige Male wird er nachts von Beamten aus dem Schlaf gerissen, dokumentiert in seiner Eingabe vom 6. März 1985. Erst kurz vor der Wende kommt die Erlösung – er darf ausreisen, weg von der repressiven Stasi, nach Westberlin. Dort lebt er noch heute.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: MDR KULTUR spezial – Darkness Forever | 31. Mai 2020 | 22:30 Uhr