Die unglaubliche Geschichte eines Films Polizeiruf 110: Im Alter von ...
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18. November 2021, 16:08 Uhr
Ein Krimi, dessen Verfilmung fast so spannend ist wie sein Inhalt: Ein Mitropa-Lehrling ermordet drei kleine Jungen - ein Verbrechen, dass es in der DDR nicht geben und das filmisch schließlich doch nicht thematisiert werden durfte. Der Film wurde bereits nach den Dreharbeitern verboten. Zu nah war den Zensoren das Drehbuch an einer realen Verbrechensserie. 2011 wurde der Film unter großem Aufwand fertiggestellt - in synchronisierter Form.
Zwischen 1969 und 1971 löste eine Mordserie die bis dahin größte Polizeiaktion der DDR aus. Der zur Tatzeit minderjährige Mitropa-Lehrling Erwin Hagedorn hatte drei Jungen auf brutale Weise ermordet. Die Ermittler filmten seine Geständnisse. Dieses bedrückende Filmmaterial zeigten die Fachberater vom Ministerium des Inneren (MdI) der jungen Polizeiruf-Crew und machten sie so mit diesem schrecklichen Verbrechen bekannt. Der Fall selbst sollte nicht verfilmt werden, aber Anlass sein, mit dem Polizeiruf über Sexualstraftaten aufzuklären. Zunächst hatte die Cottbusser Autorin Dorothea Kleine dann 1974 eine Vorlage für den Polizeiruf geschrieben.
Für die Programmverantwortlichen des Fernsehens der DDR war Kleines Polizeiruf-Skript zu dicht an der Realität, denn es zeigte ein Verbrechen, dass es in der DDR nicht geben sollte. Heinz Seibert, der bereits bei mehreren Filmen der Krimireihe Regie geführt hatte, schrieb darauf eine Neufassung unter dem Arbeitstitel "Am hellerlichten Tag". Er veränderte den Fall so, dass er nicht mehr an den Eberswalder Fall erinnerte und stellte die Ermittlungsarbeit der Einsatzgruppe Fuchs in den Vordergrund. Daraufhin befürwortete das Ministerium des Inneren (MdI) die Produktion. Kurz vor dem letzten Drehtag wurden die Dreharbeiten jedoch unerwartet erschwert, Material und Technik der Polizei wurden abgezogen und schließlich kam das Aus. Heinz Seibert konnte zwar noch eine erste Rohschnittfassung mit dem Titel "Im Alter von ..." fertigstellen. Aber an den internen Vorführungen, die dann folgten, durfte er schon nicht mehr teilnehmen.
Anfang November wurden wir alle zum Gespräch von dem damaligen Bereichsleiter Manfred Engelhardt eingeladen. Da war der Chefdramaturg dabei, der Regisseur Heinz Seibert, der Kameramann Tilmann Dähn, der Dramaturg und ich. Da wurde uns eröffnet, dass der Film gestoppt wird und nicht gesendet werden kann. Wir waren alle ziemlich gelähmt und betroffen, weil das nicht nachvollziehbar war.
Das Ende einer Film-Laufbahn
Es sollte der letzte Polizeiruf für Heinz Seibert sein, im Bereich Fernsehdramatik hatte man keine Aufgaben mehr für ihn. Er blieb zwar angestellt beim DFF und bekam hier und da mal kleinere Aufgaben, aber einen Film durfte er nicht mehr drehen und wurde gemieden und isoliert.
Als die Wende kam, hoffte Seibert, dass der Film aus dem Archiv wieder auftaucht. Aber der war nicht mehr da. Seibert versuchte, wenigstens in den Akten noch eine Spur zu finden, befragte frühere Kollegen, recherchierte in Archivjournalen, wollte wissen, warum der Film verboten wurde.
Zufall sichert tonlose Originalaufnahme
Im Deutschen Rundfunkarchiv wird eine Notiz des damals für die Reihe verantwortlichen Chefdramaturgen Lothar Dutombé aufbewahrt. Er vermerkte am 4. April 1975, dass nach Anweisung des MDI der Film so nicht gesendet werden dürfe. Alles Material sollte vernichtet werden, Rohschnitt, Kopie, Aufzeichnungen, alle Drehbuchexemplare, einfach alles. Durch einen Zufall entging jedoch das stumme Kameranegativ der angeordneten Vernichtung. Die unbeschrifteten Filmbüchsen tauchten zur Wendezeit wieder auf - verstaubt unter einer Kellertreppe des Kopierwerks. Das Material kam ins Deutsche Rundfunkarchiv und verschwand ein zweites Mal, diesmal in der Anonymität der vielen Funde aus dem sich auflösenden DFF. Die Aufarbeitung der Filmnegative des DDR-Fernsehens im Deutschen Rundfunkarchiv Babelsberg nahm danach Jahre in Anspruch.
Rekonstruktion scheint plötzlich machbar
Erst Anfang 2009 konnte das Team um Dr. Peter-Paul Schneider die Rohmaterial-Rollen der vermissten Polizeiruf-Folge identifizieren. Doch da weder Ton noch Drehbuch erhalten waren, schien eine Rekonstruktion des Films nicht mehr möglich zu sein.
Am Rande einer filmhistorischen Recherche stieß der Autor Thomas Gaevert 2009 bei Dorothea Kleine auf ein Exemplar des Drehbuchs. Durch diesen Fund wurde es plötzlich wahrscheinlich, dass der Film rekonstruiert werden kann. Doch wie soll man mit dem fehlenden Ton umgehen? Wichtige Darsteller aus den frühen Polizeiruf-Jahren, die auch in diesem Film die Hauptrollen spielten, lebten nicht mehr. Die Redaktion des MDR entschied sich dafür, den Film trotzdem wieder zum Leben zu erwecken. Der Plan: Aktuelle Stars der Polizeirufreihe liehen den Kollegen der frühen Jahre ihre Stimme.
Rolle / Darsteller / Synchronsprecher:
Oberleutnant Peter Fuchs - Peter Borgelt - Oliver Stritzel
Oberleutnant Jürgen Hübner - Jürgen Frohriep - Andreas Schmidt-Schaller
Leutnant Vera Arndt - Sigrid Reusse (Göhler) - Anneke Kim Sarnau
Major Wegner - Stanislaw Zaczyk - Jaecki Schwarz
Jenny Gerlach - Wieslawa Niemyska - Isabell Gerschke
Karl Fischer - Walter Lendrich - Wolfgang Winkler
Ehefrau Fischer - Teresa Lipowska - Marie Gruber
Horst Reisenweber - Heinz Behrens - Jürgen Zartmann
Ben Gerlach - Klaus Richter - David Weyl
Till Hochstetter - Fred Österreich - Gideo Finimento
Produktionsdaten zu "Polizeiruf 110: Im Alter von ..."
Eine Produktion des DDR-Fernsehens 1974 und TELOPOOL / URLASS-FILM / METRIX MEDIA GmbH im Auftrag des MITTELDEUTSCHEN RUNDFUNKS 2011
Team 1974
Buch: Heinz Seibert
Kamera: Tillmann Dähn
Regie: Heinz Seibert
Team 2011
Regie: Hans Werner
Musik: Rainer Oleak
Schnitt: Stefan Urlaß
Synchronregie: Irene Timm
Redaktion: Wolfgang Voigt MDR
Dieses Thema im Programm: Polizeiruf 110: Im Alter von ... | 15. Juni 2021 | 23:00 Uhr