Serienmörder im Sozialismus Profiling in der DDR: Wie der Kindermörder Erwin Hagedorn geschnappt wurde
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18. April 2023, 05:00 Uhr
Heute gilt der Fall des Serienmörders Hagedorn als Meilenstein der deutschen Kriminalistik. Denn es ist einer der allerersten Fälle, in denen neue wissenschaftliche Methoden wie das Profiling und interdisziplinäre Arbeitsgruppen zum Einsatz kamen. Dass dies in der DDR passierte, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch ein umherlaufender pädophiler Serienmörder stellte im Sozialismus ein Politikum dar – der Druck, den Fall aufzuklären, war entsprechend groß.
Inhalt des Artikels:
- Bluttat im Eberswalder Wald
- Der Mörder wird gejagt
- Staatssicherheit und Polizei ermitteln gemeinsam
- Die Psyche eines Serienmörders
- Dritter Mord verrät den Täter
- Mit Rechenpower auf der Spur des Mörders
- Kriminalgeschichte wird geschrieben
- Aus Scham und Angst schweigen die Kinder
- Andreas Kittel liefert den entscheidenden Hinweis
Bluttat im Eberswalder Wald
Als man im Juni 1969 die ersten beiden Jungen fand, 14 Tage nach ihrem spurlosen Verschwinden, war es auf den ersten Blick schwer auszumachen, wer oder was für ihren Tod verantwortlich war. Ihre Kleidung war in tadellosem Zustand. Keine Kampfspuren feststellbar. Erst tief unter der von Maden bedeckten und zerfressenen Haut kam die brutale Wahrheit ans Licht: Die beiden Jungen waren ermordet worden.
Die Opfer wiesen Stiche im Brustkorb und tiefe Halsschnitte auf. Der Täter, so hielt die Gerichtsmedizinerin Christiane Kerde von der Charité in ihrem Gutachten fest, habe ganz offensichtlich Praxis im Töten oder Schlachten. Darüber hinaus komme angesichts der minderjährigen Opfer und der Art und Weise, wie hier mit dem Messer umgegangen wurde, ein pädophiler "Lustmörder" in Betracht.
Der Mörder wird gejagt
Dass beide Kinder keine Spuren einer Vergewaltigung aufweisen, erhärtet diesen Verdacht. Denn damit, so die Gerichtsmedizinerin, stehe nahezu fest, dass dieser Mörder hier keine Zeugen seiner sexuellen Perversion beseitigt habe, sondern dass sein Lustgewinn vor allem aus dem Akt des Tötens selbst erwächst.
Die Nachricht von einem pädophilen sadistischen Triebtäter in Eberswalde soll auf gar keinen Fall die Runde machen. Der Fall, so wird es später der Chefermittler der MfS-Mordkommission, Hauptmann Lüdicke, in seinen Bericht schreiben, hat das Zeug, sich zu einer politischen Bombe zu entwickeln.
Der Einsatz der Organe unseres Ministeriums war zur Aufklärung dieser Verbrechen dringend geboten, da es sich um äußerst schwere Tötungsverbrechen an Kindern innerhalb einer Stadt handelte, mit einem erneuten Auftreten des Täters gerechnet werden musste, die Knabenmorde breiteste Kreise der Bevölkerung aus Eberswalde-Finow stark beunruhigten und nicht zuletzt aus der Bevölkerung Zweifel an der Fähigkeit der Sicherheitsorgane geäußert wurden. Die Aufklärung der Verbrechen war somit ein erstrangiges Politikum.
Staatssicherheit und Polizei ermitteln gemeinsam
Binnen kürzester Zeit werden so die Reihen der Bezirks-Kriminalisten verstärkt und zur bereits tätigen Sondereinheit von 70 Kriminalisten weitere 80 Mitarbeiter des MfS abgeordnet. Gemeinsam durchforstet man Karteien vorbestrafter Sexualstraftäter, wühlt sich durch Personal- und Patienten-Akten der regionalen Krankenhäuser, Betriebe, Schulen und Behörden nach irgendeiner verwertbaren Spur. Allein an Hinweisen auf Straftaten mit sogenannten "Notzuchtsopfern" kommen so Dutzende zusammen. Doch keine dieser Spuren führt zum Mörder der beiden Jungs.
Die einzigen, von denen man sich in dieser verfahrenen Lage noch Hilfe verspricht, sind die forensischen Psychiater und Psychologen. Wer, wenn nicht sie, kann sagen, wie jemand tickt, der solche Taten verübt? Den ersten Versuch, mehr darüber zu erfahren, unternimmt das MfS interessanterweise in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, wo mit Prof. Nikola Schipkowensky ein international anerkannter Gerichtspsychiater und Kriminologe tätig ist.
Schipkowenski bestätigt die bisherige Hypothese der Gerichtsmedizin, dass die angewandte Mord-Technik klar für eine "lustbetonte" Tötung spricht. Doch viel mehr kann er dazu nicht sagen, da ihm solche Tötungsfälle insbesondere bei Kindern aus der eigenen Praxis nicht bekannt sind.
Die Psyche eines Serienmörders
Zu diesem Zeitpunkt, April 1970, ist tatsächlich in Ost und West noch wenig über die "Arbeitsweise" solcher "Lustmörder" bekannt. Aber es gibt einzelne Wissenschaftler, die sich zunehmend mit der Materie auseinandersetzen. Auch im Sozialismus.
So stößt das MfS bei eingehender Recherche auch auf einen Artikel von Dr. Hans Szewczyk, dem führenden forensischen Psychiater in der DDR. 1966 hat er sich bereits mit dem Phänomen des Sadismus als Form sexueller Abnormität anhand eines Kriminalfalls auseinandergesetzt. Daher bittet die Morduntersuchungskommission (kurz MUK) ihn, ein weiteres Gutachten im Eberswalder Fall zu erstellen. Eines, das möglicherweise entscheidende neue Ansatzpunkte erbringt.
Tatsächlich arbeitet Szewczyk die Unterschiede zwischen dem in Eberswalde agierenden sadistisch motivierten Täter und denen, die gemeinhin Sexualstraftaten mit und ohne Todesfolge begehen, heraus. Der Täter von Eberswalde, so sein Fazit, ist eine extrem rare Erscheinung (nicht nur in der DDR) und wahrscheinlich auch durch keine Vorstrafen aktenkundig.
Doch wie soll man so jemanden dann aufspüren? Darauf hat auch der Experte keine Antwort. Wohl oder übel muss die Staatsanwaltschaft daher das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt im Dezember 1970 einstellen.
Dritter Mord verrät den Täter
Als am 11. Oktober 1971, rund ein Jahr später, die Nachricht die Runde macht, ein Rentner habe in Eberswalde die Leiche eines weiteren Kindes im Wald entdeckt, schrillen sämtliche Alarmglocken. Nicht nur elf Kriminalisten der Frankfurter MUK eilen zum Tatort, auch der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und diverse Mitarbeiter des MfS finden sich in Kürze ein. Und tatsächlich: Der Mörder der beiden Jungen, er scheint nach zwei Jahren Pause wieder da aktiv zu sein, wo er angefangen hat.
Wieder weist sein Opfer, der zwölfjährige Ronald W., gravierende Schnittverletzungen im Brustbereich auf und wieder gibt es einen massiven Halsschnitt, durch den er verblutet ist – erneut eine Art Exekution. Und erneut fehlt vom Täter, bis auf einzelne Textilfasern, am Tatort jede Spur.
Vier Morduntersuchungskommissionen und zusätzlich 100 Kriminalisten heften sich nun an die Fersen des Phantoms. Lautsprecherwagen fahren durch die Stadt, Fahndungsplakate werden gedruckt, jedem kleinsten Hinweis – so die Botschaft – werde nachgegangen. Und wieder, so scheint es, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Wer waren Erwin Hagedorns Opfer?
Am 31. Mai 1969 ermordete Erwin Hagedorn die beiden neunjährigen Jungen Henry Specht und Mario Louis. Mehr als zwei Jahre später, am 9. Oktober 1971 tötete Hagedorn den zwölfjährigen Ronald Winkler.
Mit Rechenpower auf der Spur des Mörders
Noch einmal treten die Ermittler auch an die Spezialisten der forensischen Psychiatrie heran und bitten sie, in einem Team Fallanalyse zu betreiben. Und nicht nur das: Man verspricht dem Leiter der Forensischen Psychiatrie der Charité, Hans Szewczyk, jetzt umfassende technische und personelle Unterstützung bei der Auswertung sämtlicher Fallakten, die in irgendeiner Weise mit dem Fall zu tun haben könnten.
Tatsächlich wird ein Großrechner des MDI anschließend mit Daten aus über 6.000 Fallgutachten gefüttert. Und mit Hilfe eines eigens dafür konfigurierten Rechenprogramms beginnt man Taten und Täter erstmals maschinell zu analysieren. Das Ausmaß der Ermittlungen erreicht solche Dimensionen, wie man sie zuvor noch nie in der DDR erlebt hat. Und insbesondere an der Charité ist man sich der Chance, die dieser Fall für die Forensische Psychiatrie als Wissenschaft bietet, dabei mehr als bewusst.
Kriminalgeschichte wird geschrieben
Und tatsächlich werden es am Ende die Psychiater sein, die mit diesem Fall Kriminalgeschichte schreiben. Als Begründer einer Art DDR-Profiling wird seit einigen Jahren dabei besonders häufig Hans Szewczyk genannt und gefeiert. Ein exzellenter Spezialist – ohne Zweifel. Doch den entscheidenden ermittlungstaktischen Hinweis gibt dennoch ein anderer: Fritz Barylla, Chef der Eberswalder Klinik für Psychiatrie und Neurologie.
Anders als der Sadismus-Experte Szewczyk hat er sich bereits 1965 intensiv mit dem Phänomen der Pädophilie auseinandergesetzt – und den "modus operandi" der Täter genauer in den Blick genommen. Wissen, dass er 1971 anwenden kann. Denn auch für die Aufklärung der Eberswalder Mordserie scheint insbesondere das kommunikative Verhalten des pädophilen Mörders ein entscheidender Schlüssel. In jedem der drei Mordfälle hatte er es geschafft, vorab das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, sie von ihrem Wohnort wegzulocken und außer Reichweite von Zeugen zu bringen.
Der Täter in Eberswalde hat Kinder angesprochen und versucht sie unter Kontrolle zu kriegen. Und der Chef der Eberswalder Klinik, Fritz Barylla, sagte: Also dieses Kontaktverhalten ist schwer durchzuhalten. Weil es da möglicherweise viele Begegnungen gibt, die nicht in seinem Sinne zum Erfolg führen. Und daraus resultierte die taktische Idee, die Altersgruppe von 7- bis 14-Jährigen einfach mal massenhaft zu befragen.
Aus Scham und Angst schweigen die Kinder
Es sind einige Hundert Knaben, die auf Grundlage dieser Empfehlung so in den ersten Novembertagen des Jahres 1971 von Zweier-Teams aus Psychologen und Kriminalisten in Eberswalde befragt werden: Ob sie in der Vergangenheit ebenfalls angesprochen wurden von einem unbekannten Mann? Ob ein Messer dabei eine Rolle gespielt habe? Ob ihnen die Annäherung des Erwachsenen seltsam vorkam? Die Befragung, da sind sich die Psychiater einig, werde keine einfache Sache. Schließlich ist das Thema tabu. Zumal auch Homosexualität in der DDR gerade erst legalisiert wurde. Und die Meinung vorherrscht: Über solche Dinge spricht man nicht.
Das Entscheidende hierbei ist aber, dass die Befragung so durchgeführt wird, dass die Kinder und Jugendlichen gegen ihren eigenen Widerstand schließlich nicht in der Gegenwart der anderen Kinder, sondern allein die Möglichkeit haben, sich an den Befragenden zu wenden und diesem zu berichten. In der Regel werden sich Kinder sehr scheuen, in Gegenwart von Erwachsenen, anderen Kindern oder gar ihren eigenen Eltern hierüber zu berichten.
Andreas Kittel liefert den entscheidenden Hinweis
Tatsächlich gelingt es auf diese Weise, einen Jungen zum Sprechen zu bringen: den 13-jährigen Andreas Kittel, der im gleichen Block wohnte wie das letzte Mordopfer. Er wird die Ermittler schließlich auf die Spur des Täters führen – des Mannes, der ihn selbst einst mit dem Messer und dem Tod bedroht hat, sollte er jemals etwas über diese Begegnung erzählen.
Angst und Scham hatten dazu geführt, dass er sich nie jemandem zuvor anvertraute, auch seinen Eltern nicht. Erst durch den von Experten wie Fritz Barylla und Hans Szewczyk geforderten Einsatz von geschulten Interviewern wie Lutz Belitz, die mit viel Einfühlungsvermögen Vertrauen zu den Jungen aufbauen konnten, ist es möglich, dass Andreas Kittel und andere über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen konnten – und dass der 19-jährige Täter Erwin Hagedorn schließlich gefasst wird, bevor er einen weiteren Mord begeht. Der mehrfache Kindermörder wird schließlich am 15. September 1972 in der zentralen Hinrichtungsstätte der DDR in Leipzig mit einem Schuss in den Hinterkopf hingerichtet.
Wer war Erwin Hagedorn?
Erwin Hagedorn war ein pädophiler Straftäter, der drei Jungen ermordete. Er wurde 1952 in Eberswalde geboren und arbeitete zum Tatzeitpunkt in der dortigen Bahnhofsgaststätte. Schon während seiner Ausbildung zum Koch fiel auf, dass er beim Zerlegen von Fischen besondere Brutalität zeigte. Lust, die er beim Töten empfand, war das Motiv seiner Morde. Mit nur 20 Jahren wurde Hagedorn in Leipzig hingerichtet.
Der Artikel erschien erstmals im September 2022.
Dieses Thema im Programm: ARD Audio | Angst in den Augen - Folge 1: Wald des Bösen | 18. April 2023 | 00:00 Uhr