Pharmalabor Ost Die geheimen Medikamententests
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04. Februar 2022, 12:05 Uhr
Ost-Berlin 1983, eine Geheimsitzung von DDR-Gesundheitspolitikern: Hier werden die Weichen für einen folgenschweren Deal gestellt. An ausgewählten Kliniken sollen Ärzte für westliche Pharmaunternehmen klinische Tests durchführen. Die Präparate sind nicht zugelassen, die Folgen für die Patienten unabsehbar. Für die Tests winken der DDR Devisen - und auf die ist der Staat angewiesen.
Elfriede Schneider, Rentnerin aus Plauen im sächsischen Vogtland, muss im April 1989 ins Krankenhaus. Diagnose: starke Depressionen. In der neurologischen Klinik ist kein Bett frei, erinnert sich Karin Forner, die Tochter der Patientin. Deshalb lässt sie sich auf ein Angebot der Klinik ein, dessen Folgen sie nicht abschätzen kann. Die Ärzte schlagen ihr nämlich vor, ihre Mutter an einer Studie teilnehmen zu lassen: "Da habe ich halt zugesagt in meiner Not, ohne zu hinterfragen, was sich hinter dem Wort 'Studie' verbirgt", sagt Karin Forner heute.
Blindes Vertrauen in Ärzte
Was an Betten, Geräten und Medikamenten in DDR-Krankenhäusern fehlt, versuchen die Ärzte und Schwestern mit Kreativität und persönlichem Einsatz für ihre Patienten wettzumachen. Das Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten wird nicht hinterfragt: Die Patienten vertrauen, die Ärzte bauen darauf. Auch Karin Forner vertraut darauf, dass ihrer Mutter geholfen wird. Stattdessen geht es ihr aber immer schlechter, die Sorgen und Zweifel der Tochter wachsen. Karin Forner kann sich den rapiden körperlichen und geistigen Verfall ihrer Mutter nicht erklären. Früher habe sich ihre Mutter in der Regel schnell von den Depressionen erholt.
Ein junger Arzt gibt ihr den entscheidenden Hinweis: Er fragt, welche Medikamente ihre Mutter konkret bekommt. Karin Forner weiß zwar, dass ihre Mutter an einer Medikamentenstudie teilnimmt, aber nicht, welche Präparate dabei verabreicht werden. Sie verlangt, den Medikamentenversuch an ihrer Mutter sofort abzubrechen und sie mit einem bewährten Antidepressivum zu behandeln. Es dauert sechs Wochen, bis sich Elfriede Schneider von dem Test erholt. Erst Jahre später kommt Licht ins Dunkel: In der Patientenakte ist das Medikament "Brofaromin" vermerkt.
Schweizer Präparat an DDR-Bürgern getestet
"Brofaromin" ist ein Antidepressivum, das im Auftrag des damaligen Schweizer Pharmakonzerns Sandoz in der DDR getestet wird. Akten, die im Jahr 2012 vorliegen, belegen die amtliche Zulassung der Tests an mehreren DDR-Kliniken. Das Präparat aus dem Test an Elfriede Schneider wird nie als Medikament zugelassen. Hätten die Ärzte Karin Forner über den Zweck der Studie aufgeklärt, hätte sie dieser Behandlung ihrer Mutter nie zugestimmt.
Die DDR hat in den 1980er-Jahren eigentlich ein restriktives Arzneimittelrecht, das die schriftliche Zustimmung des Probanden für die Teilnahme an einer klinischen Studie vorschreibt. Die eigenhändige Unterschrift des Patienten gilt dabei als Beleg für die bewusste Entscheidung und die freiwillige Teilnahme.
Fragwürdige Patientenaufklärung
Gesetzliche Vorschriften auf der einen, die Realität in den Krankenhäusern auf der anderen Seite: "Wir wissen aus einzelnen Beobachtungen oder Krankenakten, dass gesagt wurde: 'Wir führen hier einen Arzneimittelversuch durch'", erklärt Medizinhistoriker Professor Volker Hess von der Berliner Charité. "Und dann steht in der Krankenakte: 'Patient ist einverstanden'". Seine Feststellung widerlegen auch die Beteiligten bis heute nicht. Weder bei den auftraggebenden Pharma-Konzernen noch in den Archiven der Krankenhäuser finden sich schriftliche Einwilligungserklärungen von Patienten. Warum? Eine Antwort darauf findet sich im Kommentar zum DDR-Arzneimittelrecht. Dort besagt eine Sonderklausel: In der groß angelegten dritten Phase einer Studie könne auf die eigenhändige Unterschrift des Patienten verzichtet werden.
Staat haftet und organisiert, Firmen werden hofiert
Ein weiteres fragwürdiges Detail: Die Haftung für mögliche Schäden der Probanden übernimmt die Staatliche Versicherung der DDR. Das geht aus Verträgen zu Medikamentenstudien der Firma Hoechst mit der DDR vor - ein weiteres Plus für das Westunternehmen. Statt teure Versicherungen abschließen zu müssen, garantiert das Testland sogar noch, für Schadensansprüche aufzukommen. Aber das ist noch nicht alles: Die DDR organisiert die Tests auch. Zentralisierte Strukturen ermöglichen es, schnell geeignete Probanden und verfügbare Ärzte zusammenzubringen. Wer an welcher Klinik wie viele Patienten mit den Testmedikamenten zu behandeln hat, wird von staatlichen Institutionen geplant und entschieden. Der einzelne Krankenhausarzt hat kaum eine Chance, sich der Teilnahme an einer Studie zu entziehen. Das erlebt auch der Kardiologe Professor Johannes Schweizer im Jahr 1989.
Damals ist er ein junger Oberarzt am Bezirkskrankenhaus Dresden-Friedrichstadt. Er erinnert sich, dass eine Kollegen an der Durchführung solcher Tests nicht besonders interessiert waren. Aber es gibt auch Willige: Leitende Prüfärzte werden mit Dienstreisen und Kongressen im Westen gelockt oder mit teurer Fachliteratur aus dem Westen versorgt. Die Kosten dafür tragen meist die Unternehmen, für die die Ost-Ärzte testen. So entsteht eine Pharmakonzern-Arzt-Symbiose. Aber auch die Menschen im Westen profitieren vom "Pharmalabor Ost".
Die DDR-Bürger haben quasi als Versuchskaninchen für den Westen gedient, und auf diese Weise wurden dann Westbürger vor ungünstigen Medikamenten geschützt.
Insgesamt nahmen zwischen 1983 und 1988 an den Tests 3.000 Patienten teil. 1988 verdiente die DDR beispielsweise 6,78 Millionen DM mit diesem Medikamententests.