Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 Von der "Freiheit der Andersdenkenden"

06. Januar 2022, 11:07 Uhr

"Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand", sang jedes DDR-Kind in der Schule im Musikunterricht. Wer jene Geister waren, die da verehrt wurden, wussten wenige Schulkinder.

"Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand", sang jedes DDR-Kind in der Schule im Musikunterricht. Wer jene Geister waren, denen geschworen und die Hand gereicht wurde, was sie gedacht oder geschrieben hatten, wussten die wenigsten Schulkinder. Und es interessierte scheinbar auch niemanden. Es genügte zu wissen, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu den Gründern der Kommunistischen Partei gehörten und nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes heimtückisch ermordet worden waren.

Großkundgebung der SED

Einmal im Jahr, am zweiten Januarwochenende, marschierte das Politbüro durch die Straßen Berlins und gedachte Kampflieder singend der toten Gefährten. Die Demonstration, die kurz "LL-Demo" hieß, führte zur "Gedenkstätte der Sozialisten" auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde. In vorderster Front lief das gesamte SED-Politbüro mit dem Generalsekretär an der Spitze. Mit roten Fahnen und Transparenten folgte die werktätige Bevölkerung ihrer Staatsführung. Am Ende des Zuges marschierten in Hundertschaften die Kampfgruppen.

Neben den Bildern der zu ehrenden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden vor allem Porträts Lenins getragen, aber auch Fotos der Politbüromitglieder, die sich damit demonstrativ in die Reihe von Luxemburg und Liebknecht stellten. Dieser Personenkult wurde Anfang der Achtzigerjahre auf das Bild Erich Honeckers reduziert.

Am Ende der - wie es die Presse nannte - "machtvollen Kampfdemonstration" bestiegen die Genossen eine Tribüne, die, wie sich im Nachhinein herausstellte, mit Lüftungsschlitzen für ein Warmluftgebläse ausgestattet war, damit sich niemand von den alten Männern erkältete. Statt an dem Mahnmal für Luxemburg und Liebknecht defilierte das Volk an den davor platzierten Genossen vorüber.

Die Entdeckung der Bücher Rosa Luxemburgs

Eigentlich hätte alles für immer so bleiben können, doch man soll sein Volk nicht unterschätzen. Als endlich im sonst ungeliebten "Dietz Verlag" eine Gesamtausgabe der Luxemburg-Schriften erschien, wurden die Bücher zum geheimen Bestseller. Es sprach sich herum, dass besonders im 4. Band der Beitrag über die "russische Revolution" lesenswert wäre. Dort fand sich zum Beispiel der Satz: "Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt." Luxemburg kritisierte Lenin und Trotzki (der allerdings schon lange in Ungnade gefallen und aus den Geschichtsbüchern retuschiert worden war).

Die Vorbilder beim Wort genommen

Die Lektüre zeigte Wirkung. Am 17. Januar 1988 kam es zu einem "Zwischenfall". Bürgerrechtler wollten die Gedenkfeier nutzen, um mit Transparenten auf einige Gedanken Rosa Luxemburgs hinzuweisen. Das Zitat: "Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden" brachte das Aufbegehren auf den Punkt. Doch statt sich auf einen konstruktiven Dialog einzulassen, um die endlich notwendigen Veränderungen im Land einzuleiten, kam es zu Verhaftungen. Bereits im Vorfeld der Demonstration wurde Druck auf einige Bürgerrechtler ausgeübt, um sie von einer Teilnahme abzubringen. Durch die Staatssicherheit wurden bei der Aktion "Störenfried" unter anderen Stephan Krawczyk, Vera Wollenberger, Werner Fischer, Bärbel Bohley, Freya Klier und Wolfgang Templin verhaftet. Das Vorführen der Luxemburg-Zitate in der Öffentlichkeit wurde als Angriff auf das staatliche Deutungsmonopol gewertet. Es zeigte die Diskrepanz zwischen der Stilisierung der Person Luxemburgs zur "Parteiheiligen" und der gleichzeitigen Vernachlässigung ihrer Werke.

Verschwiegen werden konnten die Vorgänge nicht, da westdeutsche Filmteams während der Demonstration in Berlin vor Ort waren. Es kam zu einer Solidarisierung mit den Inhaftierten, ein landesweites Aufbegehren, das schließlich in die großen Demonstrationen am Leipziger Ring mündete.

Die Paralleldemonstration der Bürgerrechtler

Drei auffällig unauffällige Mitarbeiter der Staatssicherheit schlenderten am Morgen des 17. Januar 1988 über die Karl-Marx-Allee in Berlin.
Drei auffällig unauffällige Mitarbeiter der Staatssicherheit schlenderten am Morgen des 17. Januar 1988 über die Karl-Marx-Allee in Berlin. Bildrechte: DRA
Drei auffällig unauffällige Mitarbeiter der Staatssicherheit schlenderten am Morgen des 17. Januar 1988 über die Karl-Marx-Allee in Berlin.
Drei auffällig unauffällige Mitarbeiter der Staatssicherheit schlenderten am Morgen des 17. Januar 1988 über die Karl-Marx-Allee in Berlin. Bildrechte: DRA
Der Protest der Bürgerrechtler dauerte nur wenige Minuten, dann wurden sie von zahlreichen Mitarbeitern der Staatssicherheit in eine Ecke auf der Karl-Marx-Allee gedrängt.
Der Protest der Bürgerrechtler dauerte nur wenige Minuten, dann wurden sie von zahlreichen Mitarbeitern der Staatssicherheit in eine Ecke auf der Karl-Marx-Allee gedrängt. Bildrechte: Deutsches Rundfunkarchiv
Um den Blick auf die Plakate der Bürgerrechtler zu versperren, hielten Stasi-Leute schnell Plakate für eine atomwaffenfreie Welt empor…
Um den Blick auf die Plakate der Bürgerrechtler zu versperren, hielten Stasi-Leute schnell Plakate für eine atomwaffenfreie Welt empor… Bildrechte: Deutsches Rundfunkarchiv
Blick durch zwei hängende, rote Fahnen
… und rollten riesige rote Fahnen aus. Bildrechte: DRA
Menschen unter Schirmen
Ihre Plakate waren den Bürgerrechtlern von Mitarbeitern der Staatssicherheit sofort entrissen… Bildrechte: DRA
Plakat mit dem Zitat: "Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht"
Mitarbeiter der Staatssicherheit beschlagnahmten während der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988 sowohl dieses ... Bildrechte: Quelle: BStU, MfS, HA IX, 10302, Bild 16
Handschriftlich notierte landesweite Solidaritätsktionen für die Inhaftierten nach der Luxemburg-Demonstration 1988 in Berlin
Eine Kontakttelefon-Gruppe informiert nach den Verhaftungen vom 17. Januar 1988, wo in der DDR überall Protestaktionen organisiert werden. Bildrechte: Robert-Havemann-Gesellschaft
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Die Demo nach 1989: Jeder hat seine eigene Parole

Überraschend ist aus heutiger Sicht, dass sich der Charakter der Demonstration auch nach dem Mauerfall gehalten hat. Es ist bei einer "Zurschaustellung" geblieben. In einer Mischung aus Prozession und Faschingsumzug ziehen linksorientierte Gruppierungen und Parteien durch die Straßen, und wer von den alten Genossen noch laufen kann, ist auch mit dabei.

Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Friedhof Friedrichsfelde in Berlin 1 min
Bildrechte: Deutsches Rundfunkarchiv

Von mitfahrenden Autos dröhnen die Lautsprecher. Das Repertoire reicht von Ernst Busch über Rio Reiser bis zu Elektro-Pop. Jeder spielt seine eigene Musik, jeder läuft unter seiner eigenen Fahne, jeder hat seine eigenen Parolen, die gern per Megafon brüllend der Menge mitgeteilt werden. Gesungen werden auch die alten Kampflieder "und links, zwei drei, reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!".

Wie viele Arbeiter im Zug mitlaufen, ist statistisch nicht erhoben. Am Straßenrand stehen Fressbuden und Büchertische und einige junge Genossen führen einen Beutel mit Bierflaschen mit sich.

(zuerst veröffentlicht am 11.01.2013)

Karl Liebknecht ... wurde am 13. August 1871 in Leipzig geboren, vertrat als Mitglied der SPD den linksrevolutionären Flügel der Partei im Reichstag. 1916 lehnte Liebknecht die Bewilligung der "Kriegskredite" im Reichstag ab und wurde daraufhin wegen Verrats an der sogenannten "Burgfriedenspolitik" aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen und wenig später wegen "Kriegsverrat" zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Freilassung gründete Liebknecht gemeinsam mit Rosa Luxemburg den "Spartakusbund" neu. Am 9. November 1918 rief Karl Liebknecht in Berlin eine "freie sozialistische Republik" aus. Liebknecht war einer der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands zum Jahreswechsel 1918/1919. Am 15. Januar 1919, kurz nach der Niederschlagung des "Spartakusaufstandes", wurden er und Rosa Luxemburg von Freikorps-Offizieren in Berlin ermordet.

Rosa Luxemburg ... wurde am 5. März 1871 als Rozalia Luksenburg in Zamość (im heutigen Polen) geboren. Als politische Autorin verfasste sie zahlreiche zeitkritische Aufsätze und ökonomische Analysen. Sie vertrat vehement eine antimilitaristische Politik und gründete aus Widerstand gegen die Haltung der SPD bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges die "Gruppe Internationale" und leitete später zusammen mit Karl Liebknecht den daraus hervorgegangenen "Spartakusbund". Nach der Niederschlagung des "Spartakusaufstands" wurden sie und Karl Liebknecht von rechtsradikalen Freikorps-Soldaten in Berlin ermordet.

Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell auch im: TV | 15.01.2017 | 19:30 Uhr