"Gift" für die Prager Regierung Bürgerinitiative in Tschechien: Die Charta 77
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16. März 2020, 17:41 Uhr
Eigentlich verlangen sie nichts Unverschämtes: In der Charta 77 fordern tschechische Bürger, dass Bürger- und Menschenrechte auch in der Tschechoslowakei einzuhalten sind. Nichts anderes hat die kommunistische Regierung 1975 in der Schlussakte der Konferenz von Helsinki über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit unterschrieben. Dass nun Bürger diese Grundrechte am 1. Januar 1977 in einem Schriftstück öffentlich einfordern, stellt das kommunistische Regime in Prag bloß. Die Charta 77 wird nur wenige Tage später auch im Ausland veröffentlicht.
Die staatliche Antwort: Verhaftungen und Verleumdungen
Die Regierung in Prag reagiert mit Verhaftungen und Verleumdungen der Unterzeichner der Charta 77 und einer inszenierten "Anticharta". Dieses Dokument, das öffentlich im Prager Nationaltheater vorgelesen wird, erzeugt dank Live-Übertragung in Radio und Fernsehen größtmögliche Öffentlichkeit. Der Staat setzt die Künstler unter Druck: Wer das Dokument nicht unterschreibt, erhält Auftrittsverbot. Die Unterzeichner der Charta 77 werden als "Abtrünnige" und "Verräter" verunglimpft. Die Parteizeitung "Rude Pravó" hetzt unverhohlen:
Mit einem konterrevolutionären Manifest bespuckt eine Handvoll Abtrünniger, Antikommunisten und Revisionisten alles, was unserem Volk heilig ist.
Warum reagiert der Staat so vehement?
Warum reagiert der Staat so allergisch auf eine Gruppe, die weder Opposition sein will noch parteipolitische Forderungen stellt? Es ist die Vielfalt der Gesellschaft, die sich in der Bürgerrechtsgruppe spiegelt – Künstler, Christen, Nicht-Christen, Wissenschaftler, Junge und Alte, ehemalige Kommunisten. Sie alle schließen sich ausdrücklich zusammen als "freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen".
Zusammen prangern sie Missstände in ihrem Land an und nehmen dafür die Verfolgung durch den Staat in Kauf, wie zum Beispiel Milan Balabán. Er ist einer der ersten, der die Charta unterschreibt und daraufhin seine Lizenz als Geistlicher verliert - so wie die an sich unpolitischen, unangepassten Musiker der Underground-Formation "Plastic People of the Universe". Deren Verhaftung wurde 1976 zum Tropfen, der in der Tschechoslowakei das Fass zum Überlaufen bringt, das seit der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 randvoll war.
Die Anticharta macht die Charta 77 bekannt
Die Verbreitung der Anticharta macht die Bürgerinitiative Charta 77 erst richtig bekannt, auch über die Grenzen der CSSR hinaus: In Frankreich gründet sich ein internationaler Ausschuss zur Unterstützung der Charta und in der CSSR unterschreiben immer mehr Menschen das erste Dokument der Charta 77.
Die Weltöffentlichkeit blickt plötzlich auf das kleine kommunistische Land – was auch einen gewissen Schutz für diejenigen bedeutet, die das Regime am liebsten zum Schweigen bringen würde. Zum Beispiel Dana Horákowá, die ihre Wohnung auch oft für Charta-Treffen zur Verfügung gestellt hatte. Sie wird nach Veröffentlichung der Charta 77 mit Arbeitsverbot belegt und muss 1979 ausreisen. Die studierte Philosophin ist kurzzeitig stellvertretende Chefredakteurin der "Welt am Sonntag" und 2002 bis 2004 Hamburger Kultursenatorin.
Bürgerrechtler und Staat mit der gleichen Taktik: Steter Tropfen höhlt den Stein
Weder Staat noch Chartisten setzen auf einen großen schlagzeilenträchtigen Schlag. Vielmehr versuchen beide Seiten, sich mit immer neuen kleinen Nadelstichen zu zermürben. Die Bürgerrechtler weisen in neuen Veröffentlichungen darauf hin, wie der Staat die mundtot machen will, die auf Verstöße gegen die Menschenrechte im eigenen Land hinweisen. Der Staat reagiert mit vielen Übergriffen ins Leben der Bürgerrechtler – im Alltag durch Wohnungskündigungen, Entlassungen, Nicht-Zulassung zu Universitäten, aber auch durch Verhaftungen, Ausbürgerungen und endlose Verhöre. Eine Gegenreaktion darauf war die Gründung sogenannter Untergrunduniversitäten, bei denen Gelehrte regelmäßig Vorlesungen in privaten Prager Wohnungen hielten, wie in der Wohnung von Alxandr "Saša" Vondra".
Der Fall Jan Patočka
Einer der Charta-Unterzeichner, Jan Patočka, 69 Jahre alt und Philosophie-Professor im Ruhestand, stirbt nach elfstündigem Verhör. Der Staat will möglichst viele und prominente Chartisten von der Beerdigung fernhalten. Erstunterzeichner und Charta-Sprecher Václav Havel sitzt ohnehin gerade im Gefängnis, Jiri Hajelt hat Hausarrest, Pavel Kohout, der später ausgebürgert wird, schläft in der Nacht vor der Beisetzung vorsorglich nicht zuhause, erschleicht sich seinen Weg zum Friedhof. Andere Chartisten nimmt der Staat in Vorbeugehaft, wie Petr Uhl und Libuse Silhanova.
Was wird aus den Chartisten und ihrer Bürgerinitiative?
Das kommunistische Regime tritt 1989 nach wochenlangen Demonstrationen und Verhandlungen ab. Etliche der Erstunterzeichner der Charta 77 übernehmen selbst politische Ämter: Wohl prominentester Charta-Unterzeichner ist der Dramatiker Václav Havel, der 1989 Präsident der Tschechoslowakei wird. Mitunterzeichner Alexandr Vondra, dessen Wohnung erster Treffpunkt der Chartisten am 19. Mai 1988 war, wird später tschechischer Außenminister.
Im November 1992 lösen die Charta-Sprecher endgültig ihre Bürgerinitiative auf – ihr Ziel ist erreicht.