1980er-Jahre In der Visa-Zwickmühle der DDR
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15. März 2017, 15:03 Uhr
Endlose Schlangen vor Ausländerbehörden, Turnhallen und Zelte als Notunterkünfte, Proteste gegen Asylbewerberheime – was klingt, wie eine Beschreibung der Gegenwart, gab es ähnlich schon einmal Mitte der 1980er-Jahre: Menschen, die aus Bürgerkriegsgebieten weltweit fliehen.
Auch damals wollen viele nach Deutschland. Doch in den 1980er-Jahren kommen sie in Maschinen der DDR-Airline Interflug und der sowjetischen Aeroflot und reisen weiter in die Bundesrepublik. Die Geflüchteten landen mit Interflug-Maschinen auf dem Flughafen Berlin Schönefeld. Dort warten Busse, die sie zum Bahnhof Friedrichstraße fahren.
Die ostdeutschen Grenzer lassen die Busse passieren, auf der Westseite wird nicht kontrolliert. 1984 reisen so 10.000 Menschen nach Deutschland. Ein Jahr später sind es bereits 73.832 Flüchtlinge. Mehr als 60 Prozent von ihnen reisen direkt weiter nach West-Berlin und bitten dort um Asyl. Kommunalpolitiker schlagen Alarm, Anwohner sammeln Unterschriften gegen geplante Flüchtlingsheime. In Berlin wird ein Zeltlager für Asylbewerber angezündet.
Woher wusste man eigentlich in so vielen Ländern um das Schlupfloch in Berlin Schönefeld?
Historiker Dr. Jochen Staadt zufolge warb die DDR in verschiedenen Ländern in den Konsulaten und Botschaften in Aushängen für Interflug-Flüge nach Schönefeld. Dass man von dort sehr schnell nach Westberlin und auch in die Bundesrepublik kommt, sprach sich herum. Davon profitiert die DDR doppelt: Zum einen spülen ihr die Flugtickets Geld ins Land. Historiker Jochen Staadt hat recherchiert, dass die staatseigene Fluggesellschaft Interflug in einem Jahr einen Gewinn von 3,5 Millionen Mark machte.
Zum anderen findet sich die Bonner Regierung unverhofft in einer politischen Zwickmühle: Der Berliner Senat lehnt Grenzkontrollen ab: Mit Kontrollen, wie die DDR sie sonst auch vornahm, würde man den völkerrechtlichen Status der geteilten Stadt anerkennen. Und genau das will die DDR mit ihrer außergewöhnlich unbürokratischen Hilfe für die Geflohenen erreichen, als sie über den Flughafen Schönefeld die Einreise nach Westdeutschland ermöglicht.
Das Tauziehen um Transitvisa
Offiziell kann sich die DDR die Hände in Unschuld waschen: Wie die Bundesrepublik mit den geflohenen Menschen aus Sri Lanka, Ghana, Libanon oder Syrien umgeht - das ist nicht Sache der DDR. Die Durchreise zuzulassen, gebietet die Gesetzeslage. Mehrfach versuchen westdeutsche Politiker bei der politischen Führung in Ost-Berlin eine andere Transitvisa-Politik zu erwirken. Die BRD zappelt am Haken der DDR: Denn im Westen stehen 1987 Bundestagswahlen an. So geben sich Westpolitiker im Osten die Klinke in die Hand. Wer in der umstrittenen "Asylsache" in der DDR Erfolg hat, sichert sich daheim Wählerstimmen, denn da ist die Stimmung gereizt ist:
Viele der einstigen Arbeiter aus südeuropäischen Ländern, die Ende der 1960er-Jahre als "Gastarbeiter" angeheuert wurden, haben ihre Familien nachgeholt, eine junge Generation wächst heran, die einstigen "Gäste" haben sich heimisch eingerichtet und werden dauerhafte Mitbewohner. Das bringt in vielen Bereichen Konflikte mit sich, für deren Lösung es weder Plan noch Hilfen gibt. Ob oder wie sich "die Neuen" und ihre Kinder in die Strukturen in Deutschland einfinden, ist deren Problem. Eine geplante, gesteuerte, durchdachte Integration fehlt auf der politischen Agenda. Nun kommen erneut viele neue Menschen ins Land.
Wie die BRD am Haken der DDR zappelt
Die DDR indessen genießt ihre starke Position auf dem diplomatischen Parkett. Als CDU-Politiker Wolfgang Schäuble Ende August 1986 SED-Chef Honecker trifft, bittet er angesichts der "Probleme durch die Durchreisepolitik“ der DDR um "Hilfe unter guten Nachbarn". Honecker weist das zurück, das "Asylantenproblem“ sei Sache der BRD, und er setzt süffisant nach, er sei selbst mehrfach im Leben auf Transit und politisches Asyl angewiesen gewesen – und somit froh über den entsprechenden Paragraphen im Grundgesetz der Bundesrepublik. Honecker beruft sich auf eine internationale Abmachung von 1966: "Durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik kann jeder Ausländer – ungeachtet seiner Nationalität, seiner Rasse, seiner Religion, seiner politischen Überzeugung und seines Herkunftslandes – ohne jegliche Beschränkung im Transit reisen."
Der geheime Deal, der keiner wird und keiner war
Am Ende ist es der SPD-Politiker Egon Bahr, der die Kuh vom Eis holt. Er macht Erich Honecker Anfang September 1986 ein verlockendes Versprechen: Flüchtlingsstopp gegen die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, falls die SPD 1987 die Bundestagswahl gewinnt. Honecker willigt ein und am 16. September 1986 wird das Ende des Flüchtlingsstroms vermeldet. Die geheime Zusatzabsprache mit der DDR bleibt unerwähnt. Als die CDU mit Helmut Kohl 1987 die Bundestagswahl gewinnt, sind die Absprachen mit der SPD vom Tisch.
Wobei die SED den geplatzten Geheimdeal anders deutet als Egon Bahr. Während die SED meinte, die Bundesrepublik werde künftig DDR-Bürger auf BRD-Gebiet als Ausländer betrachten, wertete Egon Bahr seinen Deal später - 1994 - als Null-Zusage: Die DDR-Staatsbürgerschaft und die Papiere von DDR-Bürgern, die ins Bundesgebiet einreisten oder passierten, seien schließlich offiziell respektiert worden.