Die Fußballer Falko Götze und Dirk Schlegel vor dem Brandenburger Tor
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Flucht über Jugoslawien Mit falschen Pässen in den Westen

21. Juni 2013, 11:57 Uhr

1983 nutzen Falko Götz und Dirk Schlegel, zwei talentierte Fußballer des DDR-Meisters BFC Dynamo, ein Spiel in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad zur Flucht in den Westen.

Belgrad, 2. November 1983. Die Mannschaft des DDR-Meisters BFC Dynamo ist am Tag zuvor zum Rückspiel im UEFA-Cup der Landesmeister gegen Partizan Belgrad in die jugoslawische Hauptstadt gereist. 2:0 ist das Hinspiel ausgegangen, und die Berliner sind guter Dinge, die nächste Runde ohne große Komplikationen zu erreichen. Wie immer ist die Mannschaft mit der Maschine des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke geflogen – Mielke ist der größte Fan des BFC und außerdem Präsident der Dynamo-Sportvereinigung. Wie immer mit dabei: ein Dutzend Mitarbeiter aus Mielkes Schattenreich, die die Mannschaft überwachen sollen. Aber auch bei ihnen ist die Stimmung gelockert, in Belgrad werden keine ernsthaften Probleme erwartet. Am Vormittag steht ein Stadtrundgang auf dem Programm. Die Mannschaft fährt mit dem Bus in die Innenstadt. Trainer Jürgen Bogs gibt seinen Spielern eine Stunde Zeit. Sie dürfen sogar allein gehen. Auf diese Gelegenheit haben Falko Götz und Dirk Schlegel nur gewartet. Sie biegen um die nächste Ecke, schauen, ob ihnen jemand gefolgt ist und winken sich hastig ein Taxi heran. Sie springen hinein und sagen dem Fahrer den Zielort: Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Fluchtgedanken

Mit dem Gedanken an eine Flucht aus der DDR trugen sich Götz und Schlegel, die bereits in der Jugendmannschaft des BFC zusammen spielten, schon seit geraumer Zeit. Beide haben Westverwandtschaft, beide gelten beim Mielke-Club als Außenseiter. Als der 19-jährige Götz 1981 bei einem Spiel der DDR-Juniorennationalmannschaft in Schweden antrat, fragte er sich, ob er tatsächlich immer nur in der Oberliga spielen will. Monate später sah er während eines Trainingslagers mit seinem Freund Dirk Schlegel wieder einmal die Bundesliga in der "Sportschau". Beide schwärmten von der Klasse dort und beschlossen, anfänglich noch halb im Spaß, so bald als möglich in den Westen zu fliehen. Im September 1983 sollte es dann ernst werden. Der BFC spielte im Europapokal in Luxemburg. Beim obligaten Stadtrundgang wollten sich Götz und Schlegel absetzen. Aber sie kamen nicht fort, die Staatssicherheitsleute ließen die Mannschaft nicht aus den Augen. Als dem BFC in der nächsten Runde die Mannschaft von Partizan Belgrad zugelost wurde, beschlossen sie, es in Jugoslawien erneut zu versuchen.

Mit falschen Pässen in den Westen     

Die Fußballer Falko Götze und Dirk Schlegel vor dem Brandenburger Tor 5 min
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5 min

1995, mehr als 20 Jahre nach ihrer Flucht, sind Falko Götz und Dirk Schlegel wieder in Berlin. Sie erzählen die Geschichte ihrer Flucht.

MDR FERNSEHEN Fr 05.05.1995 22:05Uhr 04:30 min

https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/video126612.html

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Video

Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad befindet sich an einem schmucken Boulevard im Zentrum, keine fünf Minuten von dem Platz entfernt, an dem sie ins Taxi gestiegen sind. Die beiden Männer in den leuchtenden Jacken mit den Emblemen des BFC Dynamo werden zu einem Mitarbeiter der Botschaft vorgelassen. Ihm erklären sie, dass sie aus Ost-Berlin kämen und in den Westen wollten. Der hinzugerufene Botschafter Hansjörg Eiff entscheidet: Die beiden Fußballer aus der DDR sollen ins Generalkonsulat nach Zagreb gefahren werden.

In der kroatischen Metropole erhalten Götz und Schlegel Papiere mit falschen Identitäten. Ein Mitarbeiter des Konsulats schärft ihnen eine Legende ein: Ihr seid Urlauber aus der Bundesrepublik, denen alles geklaut worden ist. Sie werden nach Ljubljana gebracht und dort schließlich in den Nachtzug nach München gesetzt. Nur Mut, rufen ihnen die Mitarbeiter des Konsulats noch zu, es hat immer geklappt.

Eine knappe Stunde braucht der Zug bis an die Grenze nach Österreich. Für Götz und Schlegel ist es die längste Stunde ihres Lebens. In Jesenice, dem Grenzbahnhof, wird sich entscheiden, wo sie ankommen werden: im Gefängnis oder in der Bundesliga. Doch der jugoslawische Grenzbeamte schaut nur flüchtig auf die Papiere und ist schon wieder verschwunden.

"Über diese Beiden will ich nicht sprechen"

Während Götz und Schlegel im Zug nach München sitzen, herrscht bei den Offiziellen des BFC Ausnahmezustand. Trainer Bogs sagte, die Beiden seien vielleicht beim Klauen erwischt worden und säßen jetzt bei der Miliz. Alle klammern sich an diese Möglichkeit, keiner traut sich, das Wort "Flucht" in den Mund zu nehmen. Aber Bogs hat nun auch ein sportliches Problem: Götz und Schlegel sind Stammspieler, ihr Fehlen könnte den sicher geglaubten Einzug in die nächsten Runde gefährden. Am frühen Abend fragt er den 18-jährigen Ersatzspieler Andreas Thom, ob er sich zutraue zu spielen. Thom sagt ja und spielt eine grandiose Partie. Der BFC verliert nur 0:1 und ist eine Runde weiter. Auf der anschließenden Pressekonferenz wird Bogs auch gefragt, warum Götz und Schlegel nicht gespielt haben. Bogs nuschelt: "Über diese Beiden will ich nicht sprechen."

Nur wenig später meldet die DDR-Nachrichtenagentur ADN: "Die Fußballspieler Falko Götz und Dirk Schlegel vom BFC Dynamo wurden von Managern der BRD mit hohen Geldsummen abgeworben. Vor dem Spiel des Europapokals der Landesmeister in Belgrad haben sie ihre Mannschaft verraten."

Endlich Bundesliga

Am Morgen treffen Götz und Schlegel auf dem Münchner Hauptbahnhof ein. An einem Zeitungskiosk lesen die Schlagzeile der BILD-Zeitung: "DDR-Fußballstars geflohen!" Von München aus fahren die Beiden weiter nach Gießen, ins Notaufnahmelager. Am nächsten Tag treffen dort bereits die ersten Angebote von Bundesligamannschaften ein. Auch ein alter Bekannter meldet sich: Jörg Berger, der sich 1979, ebenfalls über Jugoslawien, in den Westen abgesetzt hatte. Götz und Schlegel kennen ihn als Trainer der DDR-Juniorenauswahl. Nun vermittelt Berger einen Kontakt zu Bayer Leverkusen. Der Werksclub gibt Götz und Schlegel sofort einen Zweijahresvertrag, obwohl die beiden Spieler aus dem Osten nach den damals geltenden Regeln für ein Jahr gesperrt sind. Im November 1984, fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Flucht, bestreiten Falko Götz und Dirk Schlegel ihr erstes Spiel in der Bundesliga.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV in "Aktuell" 03.09.2014 | 21:45 Uhr