Zerfall der Sowjetunion Antisemitismus in der Sowjetunion: Wladimir Kaminer kommt in die DDR
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15. September 2015, 11:05 Uhr
Nichts wie weg aus der Sowjetunion! Das denken 1990 viele und stehen in Moskau nach einem Visum an. Für Israel, Kanada, die USA. Unter ihnen ist auch Wladimir Kaminer, 22 Jahre alt und eben erst aus der Armee entlassen. Warum er nach Ost-Berlin kam und wie er die Zeit von "Nicht mehr DDR, aber noch nicht BRD" erlebte, lesen Sie hier.
1990 entfesselte sich im zerfallenden Vielvölkerstaat Sowjetunion eine neue Welle des Antisemitismus, die auch der ebenfalls in Auflösung begriffenen DDR nicht entging. Angetrieben von einem Rabbiner aus Jerusalem und der jüdischen Gemeinde Ostberlins brachte die DDR deshalb im Februar 1990 das "Flüchtlingskontingentgesetz" für Juden aus der UdSSR auf den Weg. Schon im Mai wanderten die ersten sowjetischen Juden nach Ostberlin ein und brauchten dafür nicht mehr als einen Fahrschein und den Eintrag "Jude" (Jewrej) im Pass. Den hatte auch Wladimir Kaminer, der die Umwälzungen in seinem Land als Wehrdienstleistender im Wald verpasst hatte.
Kurzbiografie Wladimir Kaminer
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. Er absolvierte zuerst eine Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk, dann studierte er Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut.
1990 emigrierte er in das Berlin der Nachwende-DDR. Er arbeitete hier zunächst als Toningenieur, Dramaturg und Schauspieler. Später begann er Kolumnen für die FAZ, die taz und die Frankfurter Rundschau zu schreiben.
2000 debütierte er als Schriftsteller mit "Russendisko". Prosawerke wie "Militärmusik" (2001); "Reise nach Trulala" (2002) und zuletzt "Meine kaukasische Schwiegermutter" (2010) folgten. Neben seiner Schriftstellertätigkeit ist Kaminer Mitbegründer und DJ der "Russendisko" im Berliner Kaffee Burger. Kaminer lebt im Bezirk Mitte in Berlin.
Wie der Autor in die DDR kam
Als Kaminer von der Armee zurückkam, waren die meisten seiner Freunde bereits abgehauen, viele in die USA. Doch Kaminer hörte von dem Gerücht, dass ausgerechnet die DDR jetzt Juden aufnähme. Und schon im Juli 1990 saß er im Zug nach Ost-Berlin. Im Gepäck hatte er nicht mehr als ein paar Dokumente, ein paar persönliche Sachen und das Briefmarkenalbum seines Vaters. Doch das Berlin, das er von einem kurzen Besuch 1986 kannte, war kaum mehr wiederzuerkennen: Die Mauer war weg, die D-Mark da.
Ein Kollege hat mir zwei Mark gegeben und ich fragte ihn: 'Andrej, wieviel Geld ist das?' Er sagte: 'Schwer zu sagen. Du kannst damit ein Mal Straßenbahn fahren oder ein Kilo Bananen kaufen.' Und das war natürlich etwas, was überhaupt nicht zusammen passte. Bei uns konnte man für ein Kilo Bananen zwei Monate lang Straßenbahn fahren. Das erste, was wir gekauft haben, war dann Flensburger, weil dieser Flaschenverschluss uns unglaublich faszinierte.
Kaminer und die anderen Exilanten kamen in tristen Wohnheimen am Rande von Berlin unter. Die Stadt durften sie nicht verlassen. Da lockte den jungen Kaminer, der am Moskauer Theaterinstitut Dramaturgie studiert hatte, die Anarchie des Prenzlauer Bergs. Mode, Kunst, Geschäft und Utopie entstanden dort beinahe über Nacht. Mittendrin fand und bezog Wladimir Kaminer eine leer stehende Wohnung - fast legal.
Es war ja damals so eine spannende Zeit, so eine Zwischenzeit, wo die DDR zwischen Sozialismus und Kapitalismus schwankte. Der Staat zog sich zurück – der alte ging kaputt, der neue war noch nicht richtig da. Und in dieser Pause, zwischen zwei Staatlichkeiten, entstand eine sehr menschliche Welt. Da hat es gereicht, eine Kiste Bier auf die Straße zu stellen und schon hattest du deine eigene Kneipe.
Eine Zukunft in Berlin
Kurz vor der Wiedervereinigung erhielt Wladimir Kaminer die DDR-Staatsbürgerschaft und damit wenig später automatisch die bundesdeutsche. Binnen kürzester Zeit lernte er deutsch, "aus der Not heraus". Und es sollte auch die Sprache seiner neuen Heimat sein, in der er seine Erfolgsbücher verfasste. Mit dem amüsierten Blick eines Moskauers auf die Berliner. Im Jahr 2000 erschien seine legendäre "Russendisko" mitsamt musikalischer Begleitung. Es folgten unter anderem "Schönhauser Allee", "Ich bin kein Berliner", "Das Leben ist kein Joghurt" und – in diesem Jahr – "Meine kaukasische Schwiegermutter". Dieses Buch führt Kaminer zurück in seine russische Heimat, ansonsten aber bleibt Kaminer tief verwurzelt in Berlin.
Ich, der früher politisch vollkommen desinteressiert war – es hatte ja auch keinen Sinn bei uns in der Sowjetunion - ich bin zu einem engagierten Bürger geworden. Ich sehe, dass hier wirklich eine große Mehrheit an der Mitgestaltung des Landes teilnimmt. Deswegen sage ich: Es gibt hier große und interessante Chancen für die Zukunft.
Das Flüchtlingskontingentgesetz übrigens, das Kaminer 1990 nach Berlin lockte und die DDR in ihren letzten Tagen unverhofft zum Einwanderungsland machte, fand 1991 auch in der ersten gesamtdeutschen Innenministerkonferenz Zustimmung. Eine Viertel Million ehemals sowjetischer Juden wanderten in den folgenden Jahren nach Deutschland ohne große bürokratische Hürden ein. Seit 2005 aber müssen jüdische Einwanderer glaubhaft belegen, dass sie sich in absehbarer Zeit selbst ernähren und in eine Jüdische Gemeinde aufgenommen werden können.
Buchtipp
Dmitrij Belkin und Raphael Gross (Herausgeber):
"Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik"
191 Seiten,
Berlin: Nicolai 2010,
ISBN: 978-3-89479-583-2,
Preis: 24,95 Euro