Der Rausch von 1990
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01. Oktober 2020, 15:52 Uhr
Das Jahr 1990. Ein Jahr, das alles veränderte. Zum ersten Mal gibt es freie Wahlen in der DDR. Bundeskanzler Helmut Kohl verspricht "blühende Landschaften". Die D-Mark kommt, dann die Einheit. Der Westen hält Einzug im Osten. Erinnerungen an ein Jahr der Umbrüche - zwischen Ende und Anfang.
Es waren Tage, Wochen, in denen niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Die einen hatten Angst vor einem totalen Zusammenbruch, die anderen träumten von einem neuen Zeitalter. Nichts war mehr gewiss.
"Das war eine recht- und gesetzlose Zeit, in der man das Gefühl hatte, es ist alles möglich", erinnert sich die Schauspielerin Claudia Mehnert in der MDR-Dokumentation "1990 - Zwischen Ende und Anfang". Sie ist ist damals 17 Jahre jung und Druckerei-Lehrling in Erfurt. Wie Millionen ihrer Landsleute erlebt sie 1990, wie sich ihr Staat innerhalb weniger Monate auflöst.
Keiner hatte eine Vorstellung. Wir wurden ja alle in einen unglaublichen Strudel hineingerissen. Es ging ja so rasant schnell.
Auch Darsteller Uwe Kockisch erinnert sich an die Umbrüche in der Noch-DDR: "Es waren Tage, Wochen, in denen niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Die einen hatten Angst vor einem totalen Zusammenbruch, die anderen träumten von goldenen Zeiten. Nichts war mehr gewiss."
In der realen Wendezeit steht Kockisch zusammen mit Schauspiel-Kollegin Ruth Reinecke auf der Bühne des Berliner Gorki-Theaters. "Es war ein absurde Situation. Man kann gerade noch die Milch mit dem DDR-Logo einkaufen und am nächsten Tag sind die Regale leer", so Reinecke.
1990: Aufbruch und Veränderung
Viele DDR-Bürger wollen ganz schnell in den Westen, in die neue Konsumwelt. Die damals 19-jährige Schauspielerin Anna Loos ist schon dort. Ein Jahr vor der Wende ist sie in den Westen geflohen. Nun macht sie sich auf Heimatbesuch in den Osten nach Brandenburg an der Havel.
Doch wohl ist ihr bei der Reise nicht: "Weil ich dachte, vielleicht bauen die dann die Mauer wieder auf. Doch als ich in die Stadt reinkam und zwei Gespräche geführt habe, war mir klar, nie wieder wird das aufgebaut. Aber viele Leute wollten nicht Gesamtdeutschland sein, sondern Westdeutschland. Die DDR sollte vergessen sein."
18. März 1990: Die ersten freien Wahlen
Am 18. März, vier Monate nach dem Fall der Mauer, können die Bürger der DDR zum ersten Mal frei wählen. Das "Neue Forum“ und andere Bürgerrechtsgruppen der Wende treten als "Bündnis 90" zur Wahl an. Marktwirtschaft und Einheit sofort! Das fordert die "Allianz für Deutschland" im Wahlkampf für die erste freigewählte Volkskammer. Zur Unterstützung kommt sogar Kanzler Helmut Kohl nach Erfurt.
Wenn Sie ihr persönliches Glück finden, wie Sie dies wollen, dann wird auch dies Land der DDR, dann wird dies Thüringen und diese alte Stadt Erfurt genau wie alle anderen Städte der Bundesrepublik Deutschland ein blühendes Gemeinwesen werden.
Die Versprechen von Helmut Kohl fruchten. In Erwartung "blühender Landschaften" machen die Wähler die "Allianz für Deutschland" zur großen Siegerin.
Uwe Kockisch hört von den Ergebnissen bei der Arbeit, im Gorki-Theater: "Ich kam ins Theater und da wurden gerade die ersten Wahlergebnisse durchgesagt. Das kann doch gar nicht wahr sein. Das ist doch Wahlfälschung. Warum, fragten welche. Die hab ich doch gar nicht gewählt!" Nicht nur Kockisch war überrascht vom Ausgang der Wahl. Für Ruth Reinecke waren die Wahlen 1990 ein Schock: "Die Entscheidung für die D-Mark und die ganz schnelle Hinwendung zu den blühenden Landschaften, dass man das geglaubt hat, das konnte ich nicht fassen."
1. Juli 1990: Einführung der D-Mark
Doch die Menschen in der DDR wollen die D-Mark. Am 1. Juli ist sie da. Schon ab Mitternacht können sie in einer Bankfiliale am Berliner Alexanderplatz das neue Geld abheben - Party-Stimmung, jedoch auch das Gegenteil: Bei der Ost-Berliner Deutschen Bank kommt es zu einem so gewaltigen Andrang, dass die Scheiben bersten und es Verletzte gibt.
Es beginnt der Ausverkauf der DDR, wie sich Ruth Reinecke erinnert: "Ich hatte gar kein Verhältnis zum Eigentum. Und ich begriff erstmals, dass es um einen Ausverkauf ging - stückweise. Plötzlich spielten Recht, Eigentum und Geld eine Rolle. Und zwar eine unendlich wichtige Rolle." Selbst der Trabant, auf den DDR-Bürger jahrelang warten mussten, war jetzt nur noch Plastikschrott. Fast alle DDR-Produkte müssen über Nacht mit den neuen Waren aus dem Westen konkurrieren.
Ich vermisse die Wertlosigkeit des Geldes. Ich fand das immer spannend, dass das Geld, das ich in der DDR-Zeit bekam, für das ausreichte, was für mich wichtig war. Das heißt, das Geld hatte nicht so eine Macht wie heute.
Mit der neuen Währung in der Tasche macht sich Claudia Mehnert auf in die Welt: "Per Interrail für 500 DM durch Europa, von Paris nach Lissabon, dann an die Algarve, wo man fast nach Afrika rüber spucken kann. Es war großartig“, erinnert sie sich heute.
Besetzung der Stasizentrale
In Berlin besetzen Bürgerrechtler im September 1990 die ehemalige Stasi-Zentrale und beginnen einen Hungerstreik. Ihre Forderung: Freier Zugang zu den Stasi-Akten, auch im vereinten Deutschland. Noch einmal erfahren die Aktivisten der Wende eine Welle der Solidarität. Nach mehr als drei Wochen haben die Besetzer Erfolg. Für Ruth Reinecke sind diese Erinnerungen besonders wertvoll: "Die Öffnung der Stasi-Akten war eine der größten Errungenschaften nach der Wende. So schmerzlich wie das ist, was man über das Land lernt, aus dem man kam, über die Strukturen, darüber, wozu Menschen fähig sind und was Menschen auch ausgehalten haben."
Und dann ist er da, der Tag der Deutschen Einheit. Der 3. Oktober 1990 markiert das Ende der DDR.
Über dieses Thema berichtet der MDR in "1990 - Ende und Anfang" im TV: 21.01.2020 | 22:05 Uhr