Berufspendler der ersten Stunde
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01. Oktober 2020, 15:09 Uhr
Vier von fünf Ostdeutschen verlieren in den ersten Jahren der deutschen Einheit ihren Arbeitsplatz. Viele gehen "rüber" und versuchen dort ihr Glück. Eine nie da gewesene Karawane von Berufspendlern zieht fortan gen Westen. Einige wollen tatsächlich im Westen arbeiten. Andere machen es eher widerwillig, um den Platz in der Schlange des Arbeitsamtes endlich gegen einen Arbeitsplatz einzutauschen. Die Ostdeutschen kommen gut unter, denn sie sind gut ausgebildet und im Westen herrscht Fachkräftemangel.
In der DDR gab es das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit nicht, die Verfassung der DDR sicherte den Bürgern sogar ein Recht auf Arbeit zu - erst mit der Wiedervereingigung zog Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ein. Mit 22,8 Prozent Arbeitslosenquote verzeichneten sie einen Rekordstand und ohne Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wäre die Zahl noch höher gewesen. Wie in alten Zeiten mussten frisch gebackene Bundesbüger wieder Schlange stehen, doch nun nicht mehr vor den Kaufhallen, sondern vor dem Arbeitsamt. Das veranlasst zehntausende vor allem junge und gut ausgebildete Menschen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Glück im Westen zu versuchen. Bis 1994 ziehen mehr als 660.000 Ostdeutsche im Alter zwischen 18 bis 40 Jahren in die neuen Bundesländer.
Auch Ulrich Sopha entschied sich damals, Berufspendler zu werden - obwohl er noch gar nicht entlassen war. Noch im April 1990 beginnt er mit der Pendelei nach Niedersachsen. Mit dem Wartburg ging es auf Montage nach Niedersachsen.
Die Bezahlung spielte natürlich eine große Rolle, das ist ja selbstverständlich. Mein Anfangsgehalt war ein Stundenlohn von 17,50 DM.
Das ist ungefähr dreimal soviel wie in seinem DDR-Betrieb, wo er zunächst den ganzen Jahresurlaub nimmt, um den Westen zu testen. Nach wenigen Wochen Probearbeit auf Baustellen in Niedersachsen hatte Sopha einen Arbeitsvertrag in der Tasche und kündigte seinen Job in Magdeburg. Der Stundenlohn von Sopha, aber auch vielen anderen, war im Westen viermal so hoch wie in der Noch-DDR.
Ortschaften, die nah an westdeutschen Städten lagen, waren als Ausgangsort für Pendler prädestiniert. Ein Beispiel ist Kathendorf. Der Ort liegt nur 30 Kilometer von Wolfsburg mit dem VW-Werk entfernt. Seit die Grenzen offen sind, macht sich das halbe Dorf auf, um "drüben" zu arbeiten. Die Ingenieurin Anne-Katrin Wentland bekam damals eine Stelle bei der Wolfsburger Abfallwirtschaft. Der Mut, ganz neu anzufangen, hat ihrem neuen Chef damals imponiert:
Es war so, ich war wohl die Erste aus Ostdeutschland, die sich beworben hatte. Und das denke ich, war wohl so ein bisschen der Ausschlag. Nach 30 Jahren, die ich bei meiner Firma bin, sage ich: Ich hab nichts verkehrt gemacht. Ich fahre immer noch gerne hin.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnete, dass zwischen 1989 und 1991 mehr als 2,5 Millionen Menschen arbeitslos wurden. Im Osten wurden Betriebe reihenweise geschlossen, während im Westen Fachkräftemangel herrschte. Die ostdeutschen Pendler kamen dort gut unter, vor allem im Einzelhandel und im Baugewerbe. Nur die Straßen waren der riesigen Pendlerkarawane nicht gewachsen: Im Jahr 1994 bezeichnete der ADAC die Strecke der A2, die an Braunschweig, Wolfsburg und Magdeburg vorbeiführt, als "Deutschalnds längsten Parkplatz". Zu diesem Zeitpunkt waren auf der A2 täglich rund 60.000 Fahrzeuge unterwegs.
Das tägliche Pendeln war hart - und forderte vielfach seinen Preis. Die Ehe von Ulrich Sopha ging in die Brüche und endete mit einer Scheidung. Herzprobleme kamen hinzu. Dennoch kam für heimatverbundene Pendler wie Ulrich Sopha ein Umzug in den Westen nie in Frage. Er nahm lieber die stundenlange Autofahrt auf sich. Seine zweite Frau, Manuela, war besorgt, hatte aber für die Fahrerei ihres Mannes Verständnis:
Also, ich war sehr traurig, wenn er Montag wieder losmusste. Also die Zeit war schon nicht so schön. Aber was macht man nicht alles, wenn man ein bisschen Geld verdienen muss? Dann versucht man sich zu arrangieren.
Inzwischen ist Ulrich Sopha Rentner und seine Frau Manuela froh, dass sie ihr Rentnerdasein gemeinsam im heimischen Garten verbringen können. Doch jüngere Bewohner vieler ostdeutscher Regionen sind auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auf die Pendelei angewiesen. Nach wie vor fahren wesentlich mehr Menschen aus Ostdeutschland für ihren Arbeitsplatz in ein westdeutsches Bundesland als umgekehrt. Insgesamt waren es 2019 über 415.000 ostdeutsche Berufspendler, die in den Westen fuhren. Den umgekehrten Weg vom Westen in den Osten gingen nur 178.000 Beschäftigte.