1962/63: Über 100 Tage Frost Wie Heiner Stephan den harten Winter 1962/63 erlebte
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23. Oktober 2015, 14:42 Uhr
125 Tage Frost, eingefrorene Straßen, zu wenig Kohlen im Keller und Toilettengang im Gefrierbereich - der Winter 1962/63 war besonders streng. Auch für Heiner Stephan aus Leisnig. Die Freude über die weiße Pracht wich schon bald der Sorge um die warme Stube, statt Schlittenfahrt hieß es Schnee schippen und Kohlen besorgen.
Heiner Stephan ist ein Nachkriegskind. Er wächst im sächsischen Leisnig in ärmlichen Verhältnissen auf. 1962 beendet er die 10. Klasse und wird nach dem Sommer Maschinenbau-Lehrling in Grimma. Schon im November bricht in jenem Jahr der Winter aus. Eiskalt mit viel Schnee ist er. Anfangs freut sich Heiner Stephan noch über die weiße Pracht.
Ich war damals im ersten Lehrjahr in Grimma, jeden Tag mussten wir mit dem Zug fahren. Das Internat war einfach geschlossen wegen Kohlenmangel. Und der tägliche Gang zum Bahnhof, die Bescheinigung, dass kein Zug kommt, war natürlich für uns die größte Freude.
In den ersten Wochen können die jungen Leute dem Winter viel Spaß abgewinnen: In ihrer üppigen Freizeit blockieren sie die hügeligen Straßen der Kleinstadt mit ihren Schlittenschlangen. Alles ist vereist und jeden Tag wird es kälter. Autos fahren nur noch selten und sogar die nahe gelegene Mulde ist komplett zugefroren.
Bis Weihnachten war es eine Freude, Weihnachten ist immer verbunden mit Schnee - das ist so anheimelnd. Im Januar nimmt man den Winter noch hin, aber im Februar und erst März wurde es zur Last.
Wie viele Leisniger sitzt Familie Stephan zuhause im Altbau und friert. Denn Kohlen haben sie nicht ausreichend eingelagert, weil das Geld zu knapp ist. Jeden Tag muss Sohn Heiner den neugefallenen Schnee wegschaffen und Kohlen besorgen. Doch auf den vereisten Straßen ist es nicht leicht, an die begehrten Briketts der Händler zu kommen. Jeder weiß, die Zufahrtsstraßen zur Stadt müssen frei bleiben, damit der Nachschub von außen durchkommen kann.
Es ist einer der eindrucksvollsten Momente, als der damalige städtische Bau versucht hat, die sogenannte Chemnitzer Straße irgendwie vom Eis frei zu kriegen. Die haben dann einen Pflug hinter ein Fahrzeug gespannt und dahinter saßen ein paar Leute, die haben dann versucht, das Eis aufzureißen. Um einfach die Straße vom Eis zu befreien. Das war schon verrückt.
Die Straßen werden wie Kartoffelfelder umgepflügt. Zurück bleiben Tonnen von Eisschollen, die irgendwohin müssen. Die halbe Stadt ist auf den Beinen. Alles, was sich irgendwie bewegen lässt, wird zum Abtransport eingesetzt. Schwerstarbeit. Doch wenn Heiner Stephan abends heimkommt, erwartet ihn kein gemütliches Heim. Der Frost ist inzwischen überall. Die Zimmer sind kalt. Nur das Wohnzimmer wird geheizt. Die defekten Doppelfenster sind mit Zeitungen abgedichtet. Und an Kohlen muss gespart werden.
Das werden Sie nicht mehr kennen: wir haben die eingewickelt, damit sie länger die Glut halten. Alles Kleinigkeiten, die aber notwendig waren, um mit dem bescheidenen Brennstoffvorrat und den bescheidenen Mitteln über die Runden zu kommen.
Dramatisch ist es inzwischen überall in der DDR. Besonders Kohle und Energie sind empfindlich knapp. Und die Wetterberichte sagen keine Entwarnung voraus. Es gibt Notberatungen beim Energieminister, um alle Reserven zu mobilisieren. Doch trotz aller Anstrengungen - im fernen Leisnig kommt manchmal überhaupt kein Strom mehr an. Als deshalb der Konsum geschlossen werden muss, teilen sie sich das, was sie noch haben.
Einzelschließungen waren unabdingbar wegen der fehlenden Kohlen. Die haben dann mal eine Stunde aufgemacht und die Verkäuferin hat sich eine warme Unterhose drunter gezogen oder mehrere. Und wenn das Mehl alle war, ist man runter gegangen zur Nachbarin und hat gesagt, du Emma, hast du mal eine Tasse Mehl.
Der erste warme Frühlingstag ist der 10. April 1963. Nun laufen zwar die Gullis vom tauenden Schnee über und auf der Mulde türmen sich gefährlich riesige Eisschollen. Aber Heiner Stephan erinnert sich genau an das gute Gefühl, als er das erste Mal wieder kurze Hosen trägt und einen langen Eiszapfen lutscht.
Göttlich, einfach mal solche Eiszapfen zu lutschen. Das würde heute keiner mehr machen. Das waren ja die ersten Zeichen des Frühlings. Man war befreit wie im Osterspaziergang. Wenn der Schnee endlich weg ist, das ist ein Stückchen Befreiung.
Es folgt der Frühjahrsputz in ganz Leisnig. 125 Tage Frost sind endlich überstanden.