Das erste Mal … in Paris Busreise in die schöne neue Welt
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04. Januar 2016, 18:05 Uhr
Orte, die bislang entfernter als der Mond schienen, waren nach dem Mauerfall plötzlich in nur wenigen Stunden erreichbar: Paris, die Côte d’Azur, Sorrent … Die Welt war gleichzeitig größer und kleiner geworden.
Die Reisekataloge waren zuerst da gewesen, noch vor den Versandhauskatalogen, den Versicherungsvertretern und dem neuen Geld. "Lehnen Sie sich zurück und betrachten Sie die wunderschöne Landschaft durch unsere Panoramafenster ..." Plötzlich tauchten Städte der Landkarte auf, die für mich weiter weg gewesen waren als der Mond, den ich wenigstens jeden Abend am Himmel sehen konnte. "In fünf Stunden erreichen wir München!" Die Welt war gleichzeitig größer und kleiner geworden. Ich saß da mit den Reisekatalogen und meinem alten hellblauen Schulatlas und war fassungslos. "Sonniges Sorrent", "Baumblüte in Nizza", "Karneval in Venedig". Die Welt lag um die Ecke, eine Busfahrt lang von mir entfernt. Ich hätte nur buchen und einsteigen müssen und schon wäre ich in Paris gewesen. Ach, Paris.
Die Sehenswürdigkeiten von Paris im Schulbuch
Die Sehenswürdigkeiten von Paris waren die sechste Lektion in meinem Französisch-Lehrbuch gewesen. Die erste Übung begann mit der Frage: Avez-vous vu les curiosités de Paris? Haben Sie die Sehenswürdigkeiten von Paris gesehen? Es waren zwei Antwortmöglichkeiten vorgeben: Non, je ne les ai pas vues. Oder: Qui, je les ai vues. Wobei die Bejahung dieser Frage in einer Polytechnischen Oberschule eine rein rhetorische Angelegenheit war. Für mich hatte es nur eine richtige Antwort gegeben: Niemals werde ich die Sehenswürdigkeiten von Paris sehen!
Trotzdem liefen alle Schüler der Klassenstufe acht ein halbes Jahr lang durch die Stadt, die ihnen auf einem Plan im Inneneinband des Lehrbuchs präsentiert wurde. Wir liefen vom Louvre, zur Oper, stiegen den Montmartre hinauf, schlenderten durch den Jardin du Luxembourg, wir kannten den Weg vom Place de la Concorde zum Invalidendom und wussten, wie man vom Eiffelturm zum Montparnasse kam. Paris war für mich eine Fata Morgana.
Und nun - plötzlich – wurde mir offeriert, dass ich am Abend nur in einen Bus steigen müsste, um am nächsten Morgen in der Stadt meiner Träume aufzuwachen. Meine Zweifel waren größer als meine Freude. Was, wenn die Stadt meinem Jahrzehnte lang genährten Sehnsuchtsbild nicht gleichen würde?
Zum ersten Mal in West-Berlin
Doch zuerst fuhr ich nach West-Berlin. Alles hätte ich erwartet, dass eine noch höhere Mauer um das Land gezogen, dass geschossen worden wäre, aber nicht, dass mir ein dienstbeflissener Volkspolizist das Visum für einen Westbesuch in den Personalausweis stempeln würde.
Von meinem ersten Gang durch West-Berlin sind mir zwei Dinge in Erinnerung geblieben. Zum einen das Schild in einem Fotoladen: "Farbfotos in zwei Stunden". Ein unfassbares Angebot, denn bis dahin hatte das Entwickeln von Farbfilmen mehrere Wochen gedauert. Gleichzeitig mit der Abgabe der Filme musste man eine Postkarte ausfüllen, die man zugeschickt bekam, sobald die Filme fertig waren. Wobei "sobald" ein dehnbarer Begriff war, bei dem es sich unter Umständen auch um einige Monate handeln konnte.
Die andere Erinnerung ist mein Staunen über die Auslagen eines Obstladens. Beindruckt stand ich vor ordentlich ausgerichteten Äpfeln, Orangenpyramiden, Erdbeerenkörben, Heidelbeerschälchen und einem Turm aus frischer Ananas. Als meine zweijährige Tochter entzückt auf eine Kiste mit blauen Weintrauben wies und "Pflaume haben!" rief, sprang die gerührte Verkäuferin sofort herbei und schenkte meinem unwissenden Kind eine Handvoll Trauben.
Doch bereits im nächsten Laden hielt sich die Freude über den zahlreichen Ostbesuch in Grenzen und kulminierte im Ausruf der Kassiererin: "Jetzt haben uns diese Ostdeutschen die ganze 'Krönung' weggekauft!" Jahrelang hatte uns die Fernsehwerbung eingeschworen. Wir wollten nie wieder Spülhände haben, nur Pralinen mit Piemont-Kirschen essen und unsere Wäsche sollte porentief weiß sein.
Ratlos vor der ersten West-Toilette
Der DDR-Bürger kaufte, was die Werbung anpries. Selbstverständlich auch ich. Und natürlich folgte ich auch bei der Buchung meiner ersten Reise dem erträumten Klischee: Paris. Ich wählte das preiswerteste Reiseunternehmen: 179 DM für 3 Tage Paris inklusive Fahrt, Übernachtung und Frühstück. In einem vollbesetzten Doppelstockbus fuhren wir über eine, mit hässlicher Kunst flankierte Autobahn der Traumstadt entgegen. Die erste Prüfung mussten wir auf den Toiletten der Raststätten bestehen. Auch wenn fast jeder DDR-Bürger in der Lage war – und immer noch ist - auf eine Klobrille zu steigen und den ausgehakten Schwimmer am Spülkasten wieder einzuhängen, verfielen wir vor dem Verlassen der Raststätten-Toiletten oft in Angststarre. Wo war die Spülung? Abgesehen davon, dass es nirgendwo eine Kette gab, fehlte auch oft der Knopf zum Drücken. Hin und wieder brachte das Abtasten der Fliesen Erfolg oder das Herumhampeln auf der Suche nach der versteckten Lichtschranke. Und einmal, als ich verzweifelt aufgab und die Tür öffnete, hörte ich es hinter mir rauschen. Ich nahm es als eine Lektion, die mir zeigen sollte, dass ich nicht in diese neue Welt gehörte.
Endlich – Paris!
Paris selbst empfing mich gnädig mit einem milden Morgen. Wir saßen in einem Straßencafé und ich bestellte mit meinem Schul-Französisch Milchcafé, der uns tatsächlich auch gebracht wurde. Euphorisch lief ich durch die Stadt. Vorüber an noblen Restaurants, in denen Gäste vor von Nebel umflorten Platten mit Meeresfrüchten saßen. Heimlich beobachtete ich, wie sie mit Geräten hantierten, die mich an Nussknacker und Häkelnadeln erinnerten. Hummer war in meinen Sehnsuchtsträumen bisher nicht vorgekommen. Ich bewunderte die Fassaden der Häuser, fand das von außen unscheinbare "Olympia", spuckte von der Pont neuf. Auf den Champs Elysées summte ich das Lied von Joe Dassin und betrachtete dabei die magersüchtigen Schaufensterpuppen. Sacre Coeur, Eifelturm, Notre Dame, alles stand dort, wo es auf dem Plan in meinem Lehrbuch aufgezeichnet gewesen war. Nur im Jardin du Luxemburg suchte ich vergebens auf dem Karussell nach dem weißen Elefanten, den ich aus einem Rilke Gedicht kannte. Auch in Paris waren alle Elefanten grau.
Als ich auf der Rückfahrt mit schmerzenden Füßen im Bus saß, überlegte ich, was gewesen wäre, wenn ich diese Stadt zu DDR-Zeiten gesehen hätte. Wäre ich geblieben? Wäre ich zurückgekehrt? Ich fand keine Antwort.
Kurzbiografie der Autorin
Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Studium an einer Ingenieurschule und am Leipziger Literaturinstitut. Journalistische Arbeit für die unabhängige Wochenzeitung "Die andere Zeitung" (DAZ), dann erste Hörfunk-Dokumentationen. Seit 1992 ist sie freie Feature-Redakteurin und Autorin bei MDR FIGARO.
Sie schreibt Erzählungen, Hörspiele und Romane. Letzte Veröffentlichung 2013 "Wenn die Wale an Land gehen" im Verlag Antje Kunstmann.