Zur Kur an die Adria: DDR-Kinder in Jugoslawien
Hauptinhalt
13. Juni 2013, 16:11 Uhr
30.000 Kinder, die an Asthma und chronischer Bronchitis litten, wurden zwischen 1968 und 1990 zu Kuren an die Adriaküste Kroatiens geschickt. Wie Dirk Guhl aus Hartmannsdorf, kehrten viele geheilt zurück.
Im Mai 1980 stand Dirk Guhl auf dem Bahnhofsvorplatz in Karl-Marx- Stadt: Zögernd stieg der kleine Junge zu den anderen Kindern in den Omnibus. Im Schein der Straßenlampen standen die Eltern und winkten zum Abschied. Als der Bus sich in Bewegung setzte und die schlafende Stadt in Richtung des Flughafens Berlin-Schönefeld verließ, drückte der Siebenjährige seinen Teddy fest an sich. Dann kullerten die Tränen.
Zum ersten Mal in seinem Leben begab sich Dirk Guhl auf eine weite Reise – allein ohne Mutter und Vater. Von Schönefeld flog er nach Jugoslawien, an die kroatische Adriaküste, in eine völlig andere Welt, jenseits des Eisernen Vorhangs. Dirk litt seit vielen Jahren an schwerem Asthma. So schwer, dass oft der Notarzt kommen musste. Viermal durfte der Junge zwischen 1980 und 1989 nach Jugoslawien reisen – und war am Ende geheilt.
Zur Kur nach Jugoslawien
Die DDR war das Land mit der höchsten Staub- und Schwefelbelastung der Luft in Europa. Diese Belastung war vor allem im Süden der DDR zu spüren, da sich die Industrie auf die Zentren Leipzig, Halle, Bitterfeld, Erfurt und Cottbus konzentrierte. Veraltete Industrie-Anlagen wurden ohne beziehungsweise mit verschlissenen Abgasfiltern weiter betrieben und das bei steigender Leistung. Die gesundheitlichen Folgen waren wegen der enormen Emissionswerte katastrophal. Besonders für die Kinder. Die Zahl der Erkrankten mit einer chronischen Bronchitis stieg zwischen 1974 bis 1989 um 172 Prozent.
Da es in der DDR keine Kurorte gab, in denen man diese kleinen Patienten behandeln konnte, schaute man sich Ende der 1960er-Jahre im Ausland um. Auch nach Jugoslawien wurden Kontakte geknüpft und 1968 reiste eine erste Kindergruppe für sechs Wochen nach Veli Lošinj an die Adriaküste. Später waren es jährlich acht Durchgänge mit jeweils weit über 200 Kindern vom Vorschul- bis zum Jugendalter. Das einheimische Personal wurde von ostdeutschen 50 Mitarbeitern unterstützt: Ärzte, Physiotherapeuten, Erzieher, Lehrer. Selbst Material für Unterricht und Freizeit – von Schulbüchern über Plattenspieler bis zu Fahrrädern – wurde angeliefert.
Ausgang nur mit Erziehern
Veli Lošinj liegt inmitten üppiger subtropischer Vegetation. Es ist ein beliebtes Ferienziel im damaligen Jugoslawien. Umgeben von der Adria, mit salzhaltiger Luft und mehr als 2.500 Sonnenstunden im Jahr, eignet sich das mediterrane Klima hier hervorragend zur Behandlung von Asthma und Hautkrankheiten. Schon 1892 bauten die Österreicher hier einen heilklimatischen Kurort auf und legten einen Park an. Das Sanatorium verfügt über einen eigenen Badebereich an der Adria, der bis in den Herbst hinein genutzt wird.
In Jugoslawien mit seinem liberalen Tito-Sozialismus und offenen Grenzen prallen in den 1970er- und 1980er-Jahren die Systeme aufeinander. Wer ein Schiff besteigt, ist ruck zuck in Italien. In Veli Lošinj ist die DDR bemüht, ihre Schützlinge von westlichen Einflüssen fernzuhalten. Kontakte zu Touristen waren untersagt. Jugendliche mussten schon am Bus zu Hause die Ausweise abliefern. In Veli Lošinj durften sie nur in Begleitung von Erziehern in Zweierreihen das Sanatorium verlassen.
Und was die Kinder ihren Eltern zum Kuraufenthalt schrieben, gaben ebenfalls die Erzieher vor. Die Briefe wurden zensiert. Bei westlichen Touristen blieben die ostdeutschen Kinder indes nicht unbemerkt. Als Urlauber die Kinder hinter einem Sanatoriumstor fotografierten, druckte die "Bild" die Fotos unter der Überschrift: "DDR-Kinder hinter Gittern."
Große Heilerfolge
Bis zur Wende bekamen mehr als 30.000 Kinder aus der DDR eine Kur in Veli Lošinj verschrieben. Diese Kurreisen musste die klamme DDR mit Verrechnungs-Dollar bezahlen, doch sie waren ein voller Erfolg: 98 Prozent der Patienten konnten durch die günstigen klimatischen Bedingungen geheilt werden. Nach der Wiedervereinigung übernahmen die westdeutschen Krankenkassen und Rentenversicherungsträger die Patienten in den ostdeutschen Bundesländern. Auslandskuren waren da nicht mehr vorgesehen. Im Dezember 1990 fuhren die letzten Kinder aus der Ex-DDR nach Jugoslawien. Das Paradies von Veli Lošinj geriet in Vergessenheit und die Gebäude verfielen.
"Einmal Veli, immer Veli"
Dirk Guhl ist heute 40 Jahre alt und lebt in Burgstädt bei Chemnitz. In seinem Eigenheim begegnet man Veli Lošinj auf Schritt und Tritt. Auf dem Tisch in der Stube steht eine Schale mit Muscheln und Seeigel-Panzern, an der Wand hängen Aquarelle mit Motiven des Adria-Orts. Sogar das ehemalige Kurheim hat er sich von einem einheimischen Maler auf einem Bild verewigen lassen. 2002 kehrte Dirk Guhl mit seiner Frau Simone zum ersten Mal zurück auf die Adria-Insel. Seither fahren sie jedes Jahr wieder dahin und organisieren den Zusammenhalt unter ehemaligen DDR-Kurkindern.
In der Touristeninformation der Stadt legten sie ein Gästebuch des Sanatoriums aus, in dem sich Patienten und Mitarbeiter von damals eintragen können. Im Internet haben schon Hunderte ehemalige Kurkinder zusammengefunden. Dirk Guhl schwärmt: "Einmal Veli, immer Veli." Und er hat einen Traum: Irgendwann einmal möchte er für ein paar Jahre nach Kroatien gehen, dort leben und ein Buch über seine Zeit als DDR-Kurkind schreiben. Es sei Dankbarkeit, die ihn antreibe, erklärt er, denn ohne Veli Lošinj wäre er wohl niemals gesund geworden.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: HEUTE IM OSTEN - Reportage: DDR-Kurkinder | 22.06.2013 | 18:00 Uhr