Feierabendbrigaden in der DDR Staatlich geförderte Schwarzarbeit
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02. Oktober 2017, 09:55 Uhr
"Einen Pfusch machen" oder "pfuschen gehen" waren feststehende Begriffe im Wortschatz der DDR. Jeder wusste, was damit gemeint ist. Und natürlich wusste auch jeder, was unter einer Feierabendbrigade zu verstehen ist. Beides gehörte nämlich untrennbar zusammen: Der "Pfusch" und die Feierabendbrigade.
Tausende Handwerker und Arbeiter gingen nach Feierabend, an den Wochenenden oder während des Jahresurlaubs einer Nebentätigkeit nach. Sie gingen "pfuschen". Erledigt wurde der "Pfusch" im Rahmen einer Feierabendbrigade. Die Größe der Brigaden variierte, in jedem Falle mussten die Tätigkeiten von Betriebsleitungen oder "örtlichen Organen" abgesegnet sein. Auftraggeber für die Feierabendbrigaden waren sowohl Betriebe, staatliche Stellen und Privatpersonen.
Den Tätigkeiten waren kaum Grenzen gesetzt
Mitmachen konnte beim "Pfuschen" jeder, der einen halbwegs handwerklichen Beruf ausübte, egal ob Maler, Klempner, Tischler, Elektriker, Glaser, KFZ-Mechaniker, Bäcker, Gebrauchswerber, Schlosser, Trockenbauer, Heizungsinstallateur, Treppenbauer oder Dachdecker … Und ebenso mannigfaltig waren die Aufgaben, die die Feierabendbrigaden übernahmen: Sie deckten Dächer, verlegten Elektroleitungen, installierten neue Toiletten im Betriebskindergarten, renovierten Betriebsferienheime, schmückten Auslagen in den Geschäften, reparierten Mähdrescher … Privatleute engagierten Feierabendbrigaden für den Hausbau oder das Setzen einer neuen Fernsehantenne, die einen ungetrübten Empfang von ARD und ZDF ermöglichen sollte. Nicht selten waren Feierabendbrigaden aber auch im Auftrag von Pfarrern im Einsatz – sie dichteten defekte Kirchendächer ab oder zimmerten neues Kirchengestühl.
Alles bar auf die Hand
Das Engagement der vielen tausend Handwerker in den gesellschaftlich hoch angesehenen Feierabendbrigaden hatte einen leicht nachvollziehbaren Grund: Das Pfuschen wurde höher entlohnt als die reguläre Arbeit. Den Lohn gab es zudem bar auf die Hand, Rechnungen wurden kaum gelegt. Und wenn doch einmal: Das Pfuschen war steuerfrei, brutto gleich netto. So konnte ein Handwerker beim "pfuschen" mitunter doppelt so viel verdienen wie in seiner eigentlichen Tätigkeit. Klar, dass die reguläre Arbeit in diesem Falle eher lästig war. Und so kam es schon mal vor, dass die Arbeiter früh zur Schicht in ihren Betrieben erschienen, zum Frühstück aber auf ihre privaten Baustellen verschwanden. Pünktlich zum Feierabend waren sie wieder zurück. Freitag freilich war sowieso nach der Mittagspause Zeit für den Feierabend: "Freitag ab Eins macht jeder seins!"
"Aus unseren Betrieben ist noch viel mehr rauszuholen"
Die in der DDR stets raren Baustoffe – Ziegeln, Fliesen, Kabel, Farben – hatten die Auftraggeber zu stellen. Wo das nicht möglich war, halfen die Feierabendbrigaden aus. Sie "organisierten" die Baustoffe. In der Praxis hieß das nicht selten: Sie wurden einfach aus den staatlichen Betrieben "abgezweigt". Eine Parole der SED zum Zwecke der Steigerung der Arbeitsproduktivität hieß damals: "Aus unseren Betrieben ist noch viel mehr rauszuholen!" Etliche "Pfuscher" nahmen die Parole wörtlich und schleppten aus den Betrieben heraus, was sie auf ihren Feierabend-Baustellen brauchen konnten.
Brigadier vor Gericht
Auch wenn keiner so genau kontrollierte, ab und an mussten sich doch Gerichte mit dem Finanzgebaren von Feierabendbrigaden beschäftigen. So erging zum Beispiel einmal Anklage gegen den Brigadier einer Feierabendbrigade, der drei Monate krankgeschrieben war, sich aber rund 2.000 Mark für Arbeitsleistungen in einem Krankenhaus im fraglichen Zeitraum ausgezahlt hatte. Der Brigadier erklärte dem Gericht, dass er täglich zur ambulanten Behandlung in eben jenes Krankenhaus gemusst hätte. Nach der Behandlung hätte er sich stets über den Fortgang der Arbeiten unterrichtet und Tipps und Anregungen gegeben. Er hätte sich nichts vorzuwerfen. Das Gericht verurteilte den Brigadier zur Rückzahlung des Geldes und sprach ihm eine Rüge aus. In einem anderen Fall hatte ein Elektriker für Arbeiten im Rahmen einer Feierabendbrigade knapp 500 Mark in Rechnung gestellt – in der fraglichen Zeit war er allerdings im Urlaub gewesen, am Balaton. Der Angeklagte zeigte sich reuig und zahlte das Geld zurück. So kam er um eine Strafe herum.
"Lass doch die Leute ein bisschen was dazu verdienen"
Mit der Bildung von Feierabendbrigaden hatte die SED das Ziel verfolgt, den drastischen Mangel an Handwerkern auszugleichen. In nebenberuflicher Arbeit sollten Arbeiten erledigt werden, die regulär nicht zu schaffen waren. Dieser Plan ist zu einem Teil sicherlich aufgegangen. Das die Tätigkeit der Feierabendbrigaden volkswirtschaftlich betrachtet jedoch nicht eben sinnvoll war, dämmerte in den 1980er-Jahren selbst hochrangigen Funktionären. "Ich habe zu Erich Honecker gesagt, dass wir uns mit der Feierabendarbeit totfahren", erzählte Harry Tisch, einstmals Mitglied des Politbüros und Chef des FDGB, 1995. "‘Lass doch die Leute ein bisschen was dazu verdienen‘, antwortete Honecker. Ich sagte, ja, aber das ist doch kein Problem des Dazuverdienens, sondern dass wir in der Infrastruktur so schlecht sind, dass wir keine Handwerksbetriebe in genügendem Umfang haben, die das machen könnten. Darum greifen doch die Leute auf die Feierabendbrigaden zurück. Aber über solche Fragen konnte man im Politbüro nicht diskutieren."
Weil halt alles so bleiben sollte wie es war, fand eine der seltsamsten Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates, die staatlich geförderte Schwarzarbeit, tatsächlich erst mit dem Untergang der DDR ihr Ende.
(Quelle: Zitate Harry Tisch, aus: Der Plan als Befehl und Fiktion. Westdeutscher Verlag 1995.)
(zuerst veröffentlicht am 27.11.2015)
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Geschichte Mitteldeutschlands - Das Magazin | 29.04.2014 | 21:15 Uhr