DDR-Bildungssystem: Lehrstellen für alle

12. November 2019, 16:37 Uhr

Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung hat sich bundesweit die Zahl der unbesetzten Lehrstellen im Vergleich zu 2009 mehr als verdreifacht. Auf 100 Bewerber fehlen in Sachsen 39 Azubis, in Thüringen 42 und in Sachsen-Anhalt sogar 53 Lehrlinge. Doch wie sah es in der DDR aus? Gab es da Mangel an Lehrlingen und Ausbildungsplätzen?

Die Macht des staatlichen Bildungsmonopols setzte früh ein. Schon die Kleinsten unter den Heranwachsenden nahmen am "einheitlichen sozialistischen Bildungssystem" Teil. So verwundert es heute nicht, wenn sich viele Lebensläufe ähneln. Erziehungsprogramme gab es bereits in den Kinderkrippen für die Kleinen bis drei Jahre. Nahtlos setzte sich das im Kindergarten fort und wurde durch Polytechnische Oberschule (POS), Erweiterte Oberschule (EOS) oder Berufsschule aufgenommen. Über den eigenen Bildungsweg zu entscheiden, war dabei nur eingeschränkt möglich. Wer zu Abitur oder Studium zugelassen wurde, entschied die "Arbeiter-und-Bauern-Macht". Dabei spielten häufig politische Aspekte denn Leistungskriterien eine Rolle.

Lehrerin und Schulkind an der Tafel 2 min
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Vorschulerziehung: Kinderkrippen und -gärten

Was wäre die DDR ohne die Kinderkrippen und -gärten gewesen? Kaum ein Heranwachsender, der nicht im Sandkasten gewühlt, in der Sportgruppe geturnt, mit Klanghölzern und Triangel musiziert oder für Mutti zum Frauentag gebastelt hätte. In den 1980er-Jahren besuchten rund 90 Prozent der drei- bis sechsjährigen Kinder staatliche Kindergärten, 80 Prozent der bis Dreijährigen wurde in Tages- und Wochenkrippen betreut.

Und das machte den Kleinen großen Spaß. Die Eltern hatten dafür monatlich 27,50 Mark zu zahlen, was dem tatsächlichen Unterhaltsbedarf von 77 Mark natürlich nicht entsprach und staatlich subventioniert werden musste. Die Betreuung im Kindergarten, in dem die gezielte sozialistische Erziehung begann, war sogar kostenlos. Die Eltern mussten lediglich einen Essensgeldzuschuss beisteuern.

Die Vorschuleinrichtungen spielten im Erziehungs- und Bildungssystem eine zentrale Rolle, auch wenn die Krippen für die Kleineren dem Ministerium für Gesundheit unterstanden. 1980 definiert Meyers Universallexikon die Einrichtung Kinderkrippe folgendermaßen:

Medizinisch betreute kommunale und betriebliche Einrichtung zur Pflege und Erziehung gesunder Kinder bis zum dritten Lebensjahr durch Krippenerzieher.

Dieser Bildungsanspruch setzte sich in den Kindergärten, die dem Volksbildungsministerium Margot Honeckers unterstellt waren, verfeinert fort. Propagandistisch diente das Vorschulsystem der DDR-Politik dazu, die eigene Kinderfreundlichkeit unter Beweis zu stellen. Doch die Medaille hatte zwei Seiten: Alleinstehende oder auf zwei Verdiener angewiesenen Familien blieb keine andere Wahl, als einen Teil der Kindererziehung an den Staat abzutreten. Und dieser benötigte jede Arbeitskraft, musste also sein System der Kindergärten und -krippen schon allein aus ökonomischen Erwägungen ausbauen.

Gleiche Bildung für alle: Einheitsschule

Jedes Jahr Ende August setzte DDR-weit der Sturm auf den Schreibwarenhandel ein: Am 1. September begann das neue Schuljahr. Doch einheitlich war nicht nur der Start, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung des Schulbetriebs. Die Schulbücher aus dem Verlag Volk und Wissen sahen in Stralsund genauso aus wie in Oberwiesenthal. Gleiches galt für Lehrpläne und Unterrichtsführung. Unterschiede waren unerwünscht, ebenso wie Individualität und kritischer Geist. Das "einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet die kommunistische Erziehung der jungen Bürger", umreißt Meyers Universallexikon 1980 den durch das Ministerium für Volksbildung vorgeschriebenen Erziehungsauftrag der Pädagogen. Platz für Sitzenbleiber gab es nicht.

Kernstück der Ausbildung war die so genannte polytechnische Bildung, die dem Auseinanderdriften von Theorie und Praxis ein Ende bereiten sollte. Konkret wurde dies beim "Unterrichtstag in Produktion" (UTP), bei dem sich Schüler in Betrieben der Industrie und Landwirtschaft praktische Fähigkeiten aneigneten. Tatsächlich gibt es wohl kaum einen DDR-Bürger, der nicht in der Lage wäre einen Nagel in die Wand schlagen, einen Keilriemen zu wechseln oder seine Wohnung zu tapezieren. Insofern war die "sozialistische Schule" fürwahr eine Schule für das Leben mit der Mangelwirtschaft. Für manche Betriebe, insbesondere in der Landwirtschaft, dienten die Schüler als kostenlose Arbeitskräfte, die in der Saison eingesetzt wurden. Während der Polytechnik und den Naturwissenschaften ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde, war die humanistische Ausbildung als zweitrangig angesehen. Großer Wert wurde dagegen auf Fächer wie Staatsbürgerkunde und, ab 1978, die Wehrerziehung gelegt.

Schwarz-weiß-Aufnahme von Grundschulkindern 1 min
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In der DDR werden erfahrene, aber nationalsozialistische belastete, Lehrer durch Neulehrer ersetzt, die zum Teil kaum älter als ihre Schüler sind. Aus: Kinder des Ostens, Teil 2.

MDR FERNSEHEN Di 27.03.2012 20:45Uhr 01:26 min

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Der Besuch der zehnklassigen allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) war die Regel, die Zulassung zum Abitur in der Erweiterten Oberschule (EOS) unterlag strengen Auswahlkriterien. Dabei wogen oftmals soziale Herkunft und politische Haltung mehr als Leistung. Abgelehnte begabte Schüler, die dennoch studieren wollten, mussten den Umweg über eine Berufsausbildung mit Abitur oder über den Besuch der Abendschule wählen.

Spezialschulen: Ein Hort für Talente

Ob Einstein ein guter oder schlechter Schüler war, sei dahingestellt. In der DDR, so wurde gewitzelt, wäre seine außerordentliche Begabung mit Sicherheit unentdeckt geblieben. Auf die Suche nach Talenten durften lediglich die Trainer der Kinder- und Jugendsportschulen gehen. Ansonsten tat sich die sozialistische Schule mit Begabtenförderung schwer. Nach Ansicht der SED-Ideologen widersprach eine individuelle Förderung dem Ideal der Gleichheit. So mussten sich überdurchschnittlich naturwissenschaftlich Begabte auch als leistungsfähige Sänger, Turner oder Gedichtinterpreten erweisen, um sich mittels eines untadeligen Zensurendurchschnitts für den weitergehenden Bildungsweg zu empfehlen. An Fremdsprachen interessierte Schüler hatten es etwas leichter. In vielen größeren Städten existierten "Schulen mit erweitertem Fremdsprachenunterricht", kurz "Russischschulen" genannt. Darüber hinaus gab es mehrere Musikschulen. Spezialschulen für Mathematik, Chemie und Artistik stellten dagegen eine Ausnahme in der DDR-Schullandschaft dar.

Lehrstellen für jeden

Plötzlich hießen die Bauern Agronomen oder Facharbeiter für Tierpflege und der gute alte Dreher gar Facharbeiter für Zerspanungstechnik. Im Erfinden neuer Berufsbezeichnungen und -bilder war die DDR sehr kreativ. Jedem Jugendlichen eine Lehrstelle vermittelt zu haben, wurde im Wettbewerb der Systeme als Errungenschaft hervorgehoben. Und wirklich: Jeder Schulabgänger bekam eine Lehrstelle. Nicht immer konnte er seinen Traumberuf erlernen, schließlich brauchte die DDR mehr als Kosmetikerinnen, Friseurinnen, Steno-Phototypistinnen oder Kfz- und Feinmechaniker. Gewünscht, doch bei den Schulabgängern weniger begehrt, waren dagegen Rinderzüchter, die so genannten Betonbauer, Facharbeiterinnen für Bekleidungsindustrie oder Facharbeiter für Warenbewegung.

Deshalb wurde versucht, die Ausbildung in einigen dieser Berufe durch die Kopplung an ein Abitur attraktiver zu machen. Jährlich gaben die Räte der Bezirke jeweils einen Katalog über die zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze heraus. Der war nicht öffentlich einzusehen. Aus gutem Grund, denn er verstieß häufig gegen die in der Verfassung garantierte Gleichberechtigung von Mann und Frau. Weshalb? Lehrstellen in der schlecht bezahlten Leichtindustrie wurden oft ausschließlich an Mädchen vermittelt.

Über dieses Thema berichtet der MDR im TV in "Was wurde aus der Volksbildung?" 12.11.2019 | 22:05 Uhr