Selbst erlebt Gisela Tews: Meine Geschichte zum 1. Mai
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09. Februar 2009, 12:01 Uhr
Zu DDR-Zeiten war die halbe DDR am Kampf und Feiertag der Arbeiterklasse auf den Beinen. Die Teilnahme an der Mai-Demonstration war nicht unbedingt freiwillig, galt aber als eine der ersten Staastbürgerpflichten. Als wirklichen Kampftag empfanden ihn wenige, für die Mehrheit war es einfach ein freier Tag, an dem nach der Demo gefeiert wurde. Gisela Tews erzählt, wie unterschiedlich sie den 1. Mai im Laufe ihres langen Lebens erlebt hat.
Der 1. Mai hat das Leben von Gisela Tews nachhaltig geprägt. 1927 wird sie in einem Berliner Hinterhof geboren. Ihre Mutter ist Hausfrau, ihr Vater Finanzbeamter. Gisela wächst in einem antifaschistischen Elternhaus auf. Sie erlebt die Machtergreifung Hitlers, den Zweiten Weltkrieg und vierzig Jahre DDR. Dort arbeitet sie viele Jahre als Journalistin. Bis zur Wende erlebt sie jedes Jahr hautnah die Massenkundgebungen auf dem Schlossplatz in der Hauptstadt Berlin.
Ich kann mich erinnern, dass man sich vom Betrieb aus traf, und dass es bei uns immer eine lockere Atmosphäre war. Ich empfand es immer sehr fröhlich und bunt. Für mich war der 1. Mai jedenfalls ein zweites Weihnachten, auch wenn es keine Geschenke gab.
Gisela ist sechs Jahre alt, als Hitler am 1. Mai 1933 den "Tag der Nationalen Arbeit" ausruft und zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Wie ihr Vater nehmen viele Gewerkschafter begeistert an der Demonstration teil. Doch den Tag, als ihr Vater abends heimkehrt, wird Gisela Tews nie vergessen. Schlimmes kündigt sich an.
Mein Vater musste ja von Dienstwegen zu dieser Maikundgebung, die fand auf dem Tempelhofer Feld statt. Und dann erinnere ich mich wie heute, wie er völlig deprimiert von dort kam, er hatte auch irgendein Abzeichen, weiß ich was, dran. Und sagte: jetzt hätte der Hitler die ganzen Gewerkschaften geschluckt und sie müssten alle in dieser Deutschen Arbeitsfront sein.
Gisela hat eine innige Beziehung zu ihren Eltern. Sie wird im antifaschistischen Geist erzogen und erfährt schon bald, dass man nicht mehr alles sagen darf.
Mein Vater, der erzählte also recht laut, was er für eine Meinung hatte. Jenseits der Wand wohnte aber ein Goldener-Parteiabzeichen-Mensch, der hatte aber eine sehr nette Frau. Und die sagte zu meiner Mutter: 'Bitte sagen Sie doch ihrem Mann, dass er nicht so laut seine Meinung äußern soll, weil sonst muss mein Mann ihn anzeigen.' Und meine Mutter hat immer gesagt, 'was Vati äußert, dass sagst du niemandem, dass bleibt hier im Hause. Sonst wird Vati eingesperrt.'
Gisela überlebt den Krieg und den Hunger. Doch ihre Mutter stirbt zu Kriegsende an Entkräftung. Gisela findet erst wieder Halt in einer Berliner Jugendgruppe. Am 1. Mai 1946 organisieren sie eine vom alliierten Kontrollrat genehmigte erste Kundgebung.
Wir waren zwar wirklich ein kleines Häufchen, wir hatten zwar nichts im Magen, aber wir hatten unsere Begeisterung. Und sind dann von Weißensee bis zum Berliner Schlossplatz zu Fuß gelaufen. Und die Leute haben uns sehr misstrauisch beäugt. Sie müssen sich vorstellen, wenn man Ihnen immer sagt, dass Sie die Größten sind, Sie sind dazu da, die Welt zu beherrschen. Und mit einem Mal sind Sie die Kleinsten und haben den Krieg verloren und sind an allem Schuld. Dann hat es für viele ein ungeheures Umdenken erfordert.
Bereits 1948 finden in Berlin zwei getrennte Maikundgebungen statt. Gisela lebt und arbeitet im Ostsektor. Erst in einer Gärtnerei und dann bei der Stadt.
In der Zeit wurde ich geholt in die Verwaltung vom Prenzlauer Berg. Und es war die Stelle, wo die ganzen Gefangenen aus den ehemaligen Konzentrationslagern und Zuchthäusern kamen. Und da habe ich die ganzen Lebensläufe von diesen Menschen mitgekriegt. Und da habe ich mir gedacht, wenn einer solche Sachen auf sich nimmt, um seine Gesinnung zu behalten, dann muss die gut sein. Und das hat mich wirklich mein ganzes Leben lang beeinflusst.
Gisela Tews ist leidenschaftliche Kriegsgegnerin und glühende Antifaschistin. Folgerichtig wird sie Journalistin bei der "Berliner Zeitung". Bald kommt es aber zu Widersprüchen zwischen ihrer klaren Gesinnung und den beruflichen Pflichten. Inzwischen ist auch der Vater in den Westen abgehauen, ihre Aufstiegschancen sind dadurch beschränkt. Aber sie bleibt in der DDR, weil sie glaubt, bei den Kriegsgegnern zu sein. Als 1975 der Vietnamkrieg zu Ende geht, ist es wieder ein 1. Mai, an dem sie feiert.
Mir ist zum Beispiel in wunderbarster Erinnerung der 1. Mai '75 als der Vietnamkrieg zu Ende war und Saigon gefallen war. Und da haben wir alle gesungen: 'Alles auf die Straße – rot ist der Mai, alles auf die Straße – Saigon ist frei'. So glücklich war ich selten.
1982 hört Gisela Tews noch vor ihrer Rente auf zu arbeiten. Ihre Vorstellungen stimmen längst nicht mehr mit der DDR-Realität überein. Den Feiertag der Werktätigen allerdings lässt sie sich nicht nehmen. Seit der Wende geht sie – trotz verdi.-Mitgliedschaft – nicht mehr zur Maidemo. Einerseits machen ihr die Beine langsam zu schaffen, aber auch die heutige Art, diesen Tag zu begehen.
(Anm. der Redaktion: Gisela Tews hat uns ihre Geschichte 2009 erzählt.)