1959: Bitterfelder Konferenz Harri Engelmann: Vom Schlosser zum Schriftsteller
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19. Mai 2009, 15:02 Uhr
Im April 1959 veranstaltet der "Mitteldeutsche Verlag" im "Chemiekombinat Bitterfeld" eine Autorenkonferenz. Auf Geheiß von SED-Chef Walter Ulbricht werden die Schriftsteller aufgefordert, den Arbeitsalltag in den Fabriken zu beschreiben. Doch auch die Arbeiter selbst sollten "schöpferisch tätig" werden und die "Höhen der Kultur" stürmen. Es ist die Geburtsstunde des "Bitterfelder Weges". In den 1980er-Jahren avanciert Harri Engelmann zum Vorzeigekind der Bewegung - aus der Rückschau betrachtet eher wider Willen.
Als Arbeiter im Kreis von Literaten, als Schriftsteller unter lauter KfZ-Schlossern: Harri Engelmann kennt das Leben zwischen den Stühlen. Mitte der 1970er-Jahre fängt er an, Geschichten zu schreiben, während die anderen nach Feierabend tanzen gehen. Die Freunde und Arbeitskollegen vom Instandhaltungskombinat Nord können wenig anfangen mit seinem Drang zur Literatur. Doch beirren lässt sich Harri Engelmann dadurch nicht. Er macht weiter, schreibt selbst unter widrigsten Bedingungen, bei seiner Reserve-Zeit in der NVA.
Diese Welt, die schloss die Literatur irgendwie aus. Zu DDR-Zeiten, da hatten wir zuweilen bis zu 500 Autos auf dem Hof stehen, da wurde extrem gearbeitet. Das ist etwas, wo man übers Gedichtemachen oder so nicht redet. Da galt ich ein bisschen als Sonderling.
Das ändert sich erst, als er zurück in Rostock einen Tipp bekommt: Der Hafen betreibe einen Zirkel schreibender Seeleute. Dort werden neue Talente dringend gesucht.
Ich schrieb dann tagelang auf dem Bett weiter. Dann fragten die Soldaten immer, was ich mache: 'Ich schreib meiner Frau einen Brief.' 'Gott, dass muss ja 'ne Liebe sein, so einen langen Brief.' Ich war nicht in der Lage zu sagen, was ich da mache.
Auch solche, die wie Harri Engelmann am liebsten über jugendliche Rebellen schreiben - Geschichten von Beatmusik und langen Haaren, Autoklau und Schlägereien. Die kleinen präzisen Porträts kommen an - sogar mit offiziellem Erfolg. Harri Engelmann gewinnt 1984 bei dem literarischen Volkskunstwettbewerb der DDR schlechthin, der "Bewegung schreibender Arbeiter" den ersten Preis.
Danach war ein ziemlicher Rummel. Ich kam in die Firma zurück. Dann guckten die mich alle mit anderen Augen an. Mit einem Mal war da etwas, was die Partei hofierte, wo die sich überschlugen und Glückwunschtelegramme ans Kombinat rausschickten. Und da sagten die – ohne dass sie je etwas von mir gelesen hatten: Da muss ja irgendwas dran sein.
Tatsächlich weiß sich Harri Engelmann als Schriftsteller aber noch lange nicht am Ziel. Mit 37 Jahren beginnt er ein Fernstudium am Leipziger Literaturinstitut. Die Kollegen in Rostock sind darüber wenig amüsiert. Denn seit dem Preis des FDGB wird Kundendienstleiter Engelmann ohnehin laufend freigestellt - auf ausdrücklichen Wunsch des Zentralkomitees der SED.
Fakt ist: Ich wurde noch mal hochgerufen zum Kombinatsdirektor und der knallte mit der Faust auf den Tisch: 'Was bist du nun Kfz-Meister oder Schriftsteller?' Und da hab ich ihm gesagt: 'Du, so darfst du das nicht fragen. Ich weiß selber nicht genau, was ich bin. Fakt ist: Ich schicke mir das nicht und wenn du sagst: Ich soll runtergehen und arbeiten, dann mach' ich das, dann fahr' ich da nicht hin.' Aber sie haben sich nicht getraut.
Harri Engelmann genießt die Freiheiten und wenig später den ersten publizistischen Erfolg. 1987 erscheint sein Erzähldebüt im Verlag Neues Leben – mit zensiertem Titel:
Ich wollte das Buch 'Signale im Regen' ursprünglich 'Russische Windhunde' nennen. So heißt eine Erzählung da drin. Das war die Gorbatschow-Zeit und da sagte die Lektorin: 'Du, das vergiss mal ganz schnell: Russische Windhunde. Den kriegen wir nicht durch den Titel.' Und da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass so was existiert. Viele haben mir das gar nicht abgenommen, aber ich war damals von einer gesunden Naivität.
Zwei Jahre später sind die Ge- und Verbote des DDR-Verlagswesens bereits Makulatur. Mit der Wende wird gedruckt, was sich verkauft. Wenn es sich verkauft. Magere Zeiten für angehende Schriftsteller, genauso wie für Trabant-Kfz-Meister. Harri Engelmann bleibt nur die Flucht nach vorn. Wer keine Autos mehr reparieren kann, muss sie halt verkaufen. Nebenbei schreibt er wieder: über verzinkte Traumkarossen, die Premiumkunden und Sonntagsfahrer. Seine "Aufzeichnungen eines Autoverkäufers" verkaufen sich 10.000 Mal.
Im Sozialismus war ich der schreibende Kfz-Schlosser. Mit einem Mal war ich der schreibende Autoverkäufer. Das hat dann die Auflage erhöht.
Inzwischen hat sich Harri Engelmann mit seinem "Doppelleben" arrangiert und schreibt an seinem vierten Buch. Spätestens als Rentner hat er für die Literatur dann ganz viel Zeit.
"Bitterfelder Weg" Auf den sogenannten Bitterfelder Konferenzen von 1959 und 1964 wurde der Versuch gemacht, Literatur und Produktion einander näher zu bringen - Ulbrichts Forderung vom V. Parteitag der SED 1958 war Programm: "... in Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits Herr. Jetzt muss sie auch die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen." Kunst, also auch Literatur, Arbeitsprozess und öffentliches Leben sollten sich verbinden. Nach den Bitterfelder Konferenzen, auf denen sich Berufsschriftsteller und schreibende Arbeiter trafen, kam es zwar zu vereinzelter kultureller Zusammenarbeit von Schriftstellern und Betrieben, aber nur wenige Autoren waren gewillt, sich längerfristig in der Produktion umzutun. Kurzbesuche waren die Regel.