"Unsere Werktätigen" werden Arbeitnehmer "Mit der Kameradschaftlichkeit war mit einem Schlag Schluss"
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11. September 2013, 13:07 Uhr
Wie lebten Menschen in einem Volkseigenen Betrieb? Wie erlebten sie das Ende der DDR in ihrem Betrieb und wie änderte sich die Arbeit für sie in den Jahren danach? Unser Beispiel: der VEB Wälzlagerwerk Leipzig, allgemein als "Kullerbude" bekannt.
In einem VEB wusste jeder, was ihn erwartete: Sein Leben wurde selbstverständlich vom Betrieb geregelt, bis in die Familie hinein, denn Frauen gingen selbstverständlich auch arbeiten in der DDR. Alles, vom Kindergarten bis zur Altersvorsorge, war eingetaktet im Betrieb. Es gab lästige Forderungen. In der Kampfgruppe mitzumachen, war so eine. Doch die Bereitschaft erhöhte sich durch die Aussicht, später 100 Mark Rente mehr zu erhalten. Alljährlich stattfindende Geländeübungen mit der "Kampfgruppe" des Betriebes boten Gelegenheit, im Männerverbund Kraft zu zeigen. Zum "Kampf- und Feiertag" 1. Mai gab's die Demonstration wie danach Bratwurst und Bier im Kollegenkreis, Frauen und Kinder kamen dazu, man konnte sich wohlfühlen. Die Teilnahme an der Maifeier blieb Pflichtübung, aber nicht nur.
Was den Arbeitern ihr Betrieb bedeutete, zeigte sich erst 1990
Sozialistische Planwirtschaft erfuhr jeder Produktionsgrundarbeiter stoßweise als Stress im Betrieb: Erst tagelang kein Material oder nicht das richtige, dann sonnabends und sonntags durcharbeiten für den Monatsplan. Die Hektik stieg, wenn das Quartal auslief: Gewöhnlich sollte das letzte Wochenende den Quartalsplan retten, dafür wurden Werkzeugmacher wie Ingenieure zum Produktionseinsatz geschickt. Halbjahrespläne, erst recht Jahrespläne blieben nur durch Zusatzschichten erfüllbar. Für Planvorgaben reichte die Zeit nie, um so mehr ergab sich für andere Lebensbereiche. Leute hatten füreinander Zeit. Was ihnen der Betrieb bedeutete, zeigte sich für viele, als der Staat zerfiel. Der Arbeitsplatz blieb die Stelle, wo's noch funktionierte: Undenkbar, dass die Kullerbude aufhörte zu produzieren und aufhörte, ihr Leben zu sein.
Was mit dem Systemwechsel für Ex-DDR-Bürger in dem Ausmaß, in der Direktheit unerwartet kommt, erscheint Altbundesbürgern logisch, unvermeidlich: "Schon damals, aus der Machbarkeitsstudie, ging für den Personaler eigentlich hervor: Entflechtungsprozesse im früheren Kombinat und ein Personalabbau sind erforderlich", erzählte Ursula Jäger, die 1990 als Geschäftsführerin Personalwesen aus dem Westen in die "Kullerbude" kam.
Also wir waren im Grunde genommen tatsächlich die Kaputtmacher. Das war der Begriff in den neuen Bundesländern.
Wie erlebten Arbeiter den "Systemwechsel"?
Die Leipziger "Kullerbude" gehörte zum VEB Kombinat Wälzlager und Normteile mit Sitz in Berlin. Als 1990 die DDR vermarktet wurde, griff FAG Kugelfischer aus Schweinfurt zu, einer der weltgrößten Wälzlagerhersteller. Er erwarb für 27 Millionen DM die acht Kombinats-Betriebe, darunter die "Kullerbude". Unter Verschluss blieb damals: Der Schweinfurter Konzern war mit einer Milliarde DM verschuldet und wollte sich mit dem Ostgeschäft sanieren.
Wie erlebten nun Betriebsangehörige die deutsche Vereinigung in ihrem Betrieb?
Westmanager trafen ein und bisherige VEB-Werktätige strukturierten ihrem Betrieb die Ordnung der neuen Eigentümer auf: "Aus der DDR wurde nichts anerkannt, nur das Volkseigentum, das wurde gleich privatisiert" - eine solche Grunderfahrung Ost im Systemwechsel dringt auch im Wälzlagerwerk durch:
Die haben versucht, a l l e s zu ändern. Also wenn man's so nimmt, haben wir alles falsch gemacht.
Im "die" und "wir" auf Betriebsebene, im Kleinen wird das Prinzip wahrgenommen, was die Staatsebene beherrscht: Aus der DDR wird nichts übernommen.
Was bei Einheimischen Widerstand weckt, kann einem nach Leipzig entsandten Werkleiter aus dem Westen als überkommene DDR-Schlamperei erscheinen: "Ich erinnere mich an Szenen, wenn, obwohl man's gefordert hatte, tagelang nicht der Boden gewischt oder immer noch nicht gestrichen wurde, das hat man sich angeschaut und ist dann mal explodiert", sagt Sigolf Meinck, ab 1991 Werksleiter in der "Kullerbude". "Das kann natürlich als Arroganz aufgefasst werden."
Der Brotzeitholer im VEB
Wie entstehen Wertungen, was kommt unten an und verdichtet sich zu Bewertungen? Oft sind es scheinbare Kleinigkeiten, an denen sich eine Animosität entzündet, die als Grundsatzfrage weiterschwelt. "Die Chefs hatten eines Tages die Idee, dass die Leute keine Zeit mehr verbummeln, um zum Speisesaal zu gehen. Da gab's plötzlich nicht mehr Frühstück, es wurde Brotzeit eingeführt", erinnert sich Monika Herold, Bibliothekarin in der Bibliothek der "Kullerbude", die kurze Zeit später wegen "Ineffizienz" freilich dichtgemacht wurde. "In jeder Abteilung wurde also ein 'Brotzeitholer' bestimmt, der die Kollegen fragte: Was willste haben? Mich hat das angekotzt. Ich hab einem Geschäftsführer gesagt: Stellen Sie sich mal vor, die ganze Geschichte wäre umgedreht und nicht Sie aus'm Westen wären zu uns rübergekommen, sondern wir hätten Schweinfurt übernommen und gesagt: Eure Brotzeit ist Käse, ab jetzt gibt's Frühstück. Wie hätten Sie sich denn gefühlt?"
Die Drohung "Entlassung" als Mittel der Entsolidarisierung der Arbeiter
Was im Sozialismus Propaganda leistete, macht sich im Kapitalismus als Werbung breit, in Lockworte gefasst: "Da gab's Überlegungen, das Unternehmen umzustrukturieren. Bei dem Begriff, das hat man relativ schnell begriffen: Umstrukturierung hieß automatisch auch Personalabbau", sagt der Arbeiter Volker Freund. "Wir wurden immer weniger, der Betrieb wurde immer schlanker gemacht. Schlankmachen, das war so das Schlagwort unter den Wessis." – Eine elegante Umschreibung für Entlassung. Ein Wort, das in der DDR nur in der "Aktuellen Kamera" vorkam, wenn aus dem Westen berichtet wurde. Arbeitslos zu werden, war bis dahin undenkbar gewesen. Jetzt schien dieses Schicksal jeden treffen zu können. Und das hatte enormen Einfluss auf die Stimmung im Betrieb.
Nach der Wende gab es einen großen Konkurrenzkampf unter uns: Wer bleibt? Wer muss gehen? Warum der nicht, warum ich? Wie es so ist, ist menschlich ...
Walter Jerusel, Meister in der Dreherei, erinnert ich so: "Der Dreher H. kam eines Tags zur Spätschicht. Ich sag' zu ihm: Du, wir müssen zum Bereichsleiter. Wir sind rein, und der Bereichsleiter sagt: Herr H., Sie sind gekündigt. Und als Antwort von H., das werde ich nie vergessen: Ich habe doch gar nischt falsch gemacht ..."
"Von der Individualität ist nichts mehr übrig"
Der Systemwechsel erfolgte als Fortschreibung westlicher Verhältnisse. Der politische Teil war schleunigst erledigt, innerhalb von Monaten endete die DDR in der BRD. Die wirtschaftliche Basis anzupassen, "Volkseigentum" auf Gewinn zu formatieren, dauerte länger.
Was fiel den Beschäftigten der "Kullerbude" in Leipzig auf? "Fast jeden Tag kamen Rundgänge, irgendwelche Herrn, Krawatten natürlich. Ich hatte das Gefühl, die wollen was ändern", bemerkte Siegfried Eckhardt aus der Abteilung Endkontrolle. "Vorher war: Alle arbeiteten, aber anders. Alles war jetzt, in Anführungsstrichen, besser organisiert. Aber bessere Organisierung hat logischerweise einen Grund: Damit sind die Menschen besser zu kontrollieren. Wenn man Pause hatte, konnte man nicht mehr dort oder dort hingehen." – "Jeder hatte mit sich zu tun, dafür hatten die neuen Chefs ganz schnell gesorgt. Es war eiskalt", erinnert sich Dieter Schäfer, 1990 Abteilungsleiter Materialwirtschaft. "Später wurde auf Großraumbüros umgestellt, wo ich erst sehr dagegen war. Na ja, da ist schon viel Kaufhausatmosphäre. Von der Individualität ist nichts übrig. Und was wir als besonders unangenehm empfunden haben - der Chef saß im Glaskasten und konnte ringsherum gucken ..."
Nach und nach wurde im Betrieb auf neue Normen, Technologien und moderne Maschinen umgestellt. Für die, die bleiben durften, brachte das ganz erhebliche Vorteile: "Früher war ich Einrichter. Nach der Wende bin ich zum Allrounder geworden", sagt der ehemalige Schleifer Roland Grzybek. "Das heißt, für mich ist es interessanter, der Aufgabenbereich ist viel größer jetzt. Was sich sehr geändert hat, sind die Qualitätsanforderungen. Und viele Arbeiten erledigen jetzt computergesteuerte Maschinen. Da braucht man keine Arbeiter mehr. Früher hatten wir 15 Maschinen in der Halle, an jeder zwei Einrichter. Damals gab's noch die großen Brigadefeiern. Die Dreherei, die schlachten heute noch ein Schwein zum Jahresabschluss, von sich aus, Zuschüsse vom Betrieb gibt's, anders als einst, keine mehr. Wir aus unserer kleinen Abteilung gehen manchmal noch bowlen. Dazwischen geht eben jeder nach der Arbeit seinen Weg. Verkaufsstelle, Speisenräume, alles war es zu DDR-Zeiten im Werk gab, sind weggefallen. Man muss sich Getränke mitbringen. Viel getan hat sich im Sanitärbereich. Da sah früher alles unter aller Sau aus. Jetzt: neue Duschen, Heizung, Entlüftung. Arbeitskleidung gab's früher auch nicht, jetzt bekommt jeder fünf Hosen und drei Jacken jedes Jahr."
Am deutlichsten freilich fällt der Wandel des Betriebsklimas auf:
Mit der Kameradschaftlichkeit, dem Zusammenhalt der Brigade und gemeinsamen Veranstaltungen, damit war mit einem Schlag Schluss.
Die einstigen Arbeiter der "Kullerbude" erfahren: Statt Zusammengehörigkeit hetzt heute das reale "Zeit ist Geld" im Alltag. "Der Unterschied zu früher ist, dass du nie dein Leben hast", resümiert der Dreher Jürgen Klotz. "Ich bin nie vor fünf zu Hause, manchmal erst drei viertel sechs. Wenn du eher gehst, guckt die Chefin schon. In der DDR warst du nach der Frühschicht um halb drei, nach der Normalschicht halb vier zu Hause. Da hab ich meinen Jungen geschnappt und wir sind baden gefahren oder in den Garten. Was hast du jetzt noch vom Abend? Nach dem Abendbrot ist es schon sieben ..."
Der Autor Norbert Marohn Norbert Marohn, 1952 in Neuruppin geboren, lebt als Schriftsteller, Essayist und Hörfunkautor in Leipzig. Die "Kullerbude" und ihre Arbeiter begleitete er viele Jahre lang. Ergebnis dieser Beschäftigung: ein MDR-Hörfunkfeature und ein Essay: "Zum Beispiel Kullerbude. Vom VEB Wälzlagerwerk Leipzig zum Konzern zum Konkurs zur GmbH", erschienen 2011 im Lychatz Verlag.
Die Geschichte der Kullerbude
Die Geschichte des VEB Wälzlagerwerk Leipzig beginnt 1904, als im Leipziger Stadtteil Leutzsch die Deutsche Kugellagerfabrik ins Leben gerufen wird. 1955 wird der Betrieb verstaatlicht und heißt fortan Wälzlagerwerk. Die Beschäftigten nennen ihr Werk immer nur "Kullerbude".
1990 übernimmt die FAG Kugelfischer den VEB Wälzlagerwerk, der sich weltweit mit seinen Produkten einen guten Ruf erworben hatte. Der Schweinfurter Konzern ist hoch verschuldet und spekuliert darauf, sich mit dem Leipziger Werk sanieren zu können. Doch die Hoffnungen erfüllen sich nicht – 1993 muss der Konzern Gesamtvollstreckung anmelden. Die Beschäftigten besetzen daraufhin ihren Betrieb und fordern den Erhalt ihrer Arbeitsplätze.
Vier langjährige Betriebsangehörige gehen in dieser Situation ein großes Wagnis ein – sie übernehmen den Betrieb und gründen die KUGEL- UND ROLLENLAGERWERK GMBH (KRW). 170 Mitarbeiter können sie beschäftigen und sogar Gewinne erwirtschaften. 2007, als die Gesellschaftsgründer das Rentenalter erreichen, verkaufen sie ihren Betrieb an eine Unternehmensbeteiligungsgesellschaft aus Stuttgart. Die Schwaben investieren Millionen in neue Produktionsanlagen, verkaufen das Unternehmen 2013 aber an einen chinesischen Wälzlagerkonzern, der mit 220 Beschäftigten weiter produzieren will.