Das Altpapier am 14. Mai 2019 Hilft Gutgemeintheit gegen Manipulation?

Twitter sperrt weiter und bekommt zunehmend Probleme damit, dass es in Deutschland gar nicht präsent ist. Österreichs Bundeskanzler und der deutsche "Satire-Trump" sind einfach nicht zu trennen. Außerdem: Was die ARD zur reanimierten Idee eines öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanals sagt. Ein Altpapier von Christian Bartels.

#Twittersperrt-e auch am gestrigen Montag weiter (Altpapier), darunter vom Morgen bis zum späten Nachmittag den Account der Jüdischen Allgemeinen. Das brachte dem Netzwerk u.a. deren breit zitierte Einschätzung ein, "dass Twitter antisemitische Hasstweets duldet, aber Nachrichten der einzigen jüdischen Wochenzeitung Deutschlands sperrt". Anlass war ein offenkundig allen deutschen und europäischen Gesetzen entsprechender Tweet zu einer ebenfalls nicht im geringsten gesetzeswidrigen Meldung über Aussagen, die der israelische Botschafter in einem dpa-Interview zur AfD gemacht hat.

Wie genau solche vorübergehend verhängten Sperrungen aussehen, schildert heise.de:

"Die Nutzer-Tweets bleiben bis auf den gemeldeten Tweet sichtbar, aber der Zugriff wird entzogen. Der Nutzer steht dann vor der Wahl, entweder den beanstandeten Tweet zu löschen und wieder freigeschaltet zu werden, oder 'Einspruch' gegen die Beurteilung von Twitter einzulegen. Tut er das, erklärt ihm Twitter: 'Während wir deinen Einspruch prüfen, kannst du nicht auf deinen Twitter-Account zugreifen. Wir sehen uns die Angelegenheit an und antworten sobald wie möglich. Wenn du deine Tweets lieber einfach löschen möchtest, kannst du deinen Einspruch zurückziehen.'"

Spätestens der freundliche Ratschlag, zur "Verbesserung der Gesprächskultur" (wie es im am breitesten zitierten Tweet der deutschen Twitter-Niederlassung heißt) Strittiges lieber einfach zu löschen, bevor anonyme Instanzen in irgendeinem Zeitrahmen irgendwo (wie Formulierungen wie "Relevante Interessengruppen im Umfeld von Wahlen verfügen ebenfalls über Kanäle zur Eskalation von Problemen oder Bedenken" nahelegen: eher nicht im deutschen Sprachraum) Entscheidungen darüber fällen müssen, verdeutlicht die Gefahren des "Overblockings", das in den langen Debatten ums NetzDG beschrien wurde. Die heise.de-Einschätzung "Entgegen anders lautenden Meldungen hat die Blockade-Schwemme nichts mit dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz ... zu tun. Die Ursache ist vielmehr eine neue Meldefunktion gegen Desinformation vor der Europawahl", trifft wohl auch nur einerseits zu. Andererseits dürfte die neue Meldefunktion einiges mit dem NetzDG zu tun haben.

Mit Besonderheiten des im Vergleich zum sehr viel größeren und profitableren Datenkraken Facebook kleinen Twitter hängt die Chose ebenfalls zusammen. Seitdem Shahak Shapira im Rahmen einer Aktion für sog. soz. Medien im Sommer 2017 (Altpapier) eher beiläufig feststellte, dass das damals ergooglebare "Hamburger Büro des Kurzbotschaftendiensts Twitter" gar nicht mehr bestand, ist Twitter in Deutschland nicht präsenter geworden. Zwar gibt die im Sommer '18 berufene Country Director-in Jolanta Twarowska für ihren Account den Standort "Germany" an und postet recht aktuell – derzeit insbesondere: Fotos von Donuts. Doch dass Twitter noch anonymer agiert als Facebook, erweist sich zunehmend als Problem des Netzwerks.

Wer den NetzDG-Zusammenhang zog (auch wieder auf Twitter), war FAZ-Redakteur Hendrik Wieduwilt, der dann in seinem heute auf der FAZ-Medienseite erschienenen Artikel (45 Cent bei Blendle, online ähnlich, aber ohne die folgende Passage) mal wieder den Kern des ungelösten Problems anspricht:

"Fragt man Anbieter sozialer Medien, ob sie wohl so eine Art Verleger sind, ist die Antwort stets dieselbe: natürlich nicht, denn Facebook und Twitter wählten ja keine Inhalte aus, sondern böten nur eine Plattform an. Dass sie doch eine Art Superverleger sein können, zeigte Twitter am Montag ..."

Also: Sind Netzwerke Infrastrukturen, die für durch sie kommende Inhalte nicht verantwortlich sind, oder sind sie so was wie Medien, die es doch sind? Inzwischen herrscht an gut gemeinten Initiativen und Ideen zur "Verbesserung der Gesprächskultur" im Internet längst Überfluss statt Mangel. Zum Beispiel hat Facebook gerade auch "23 Seiten gesperrt, die Falschmeldungen und Hass-Inhalte enthielten", von denen mehr als die Hälfte Parteien zuzurechnen sei, die die aktuelle italienische Regierung bilden (Tagesspiegel). Zum Beispiel hat SPON just der New York Times entnommen, dass "der Kreml", um in der EU Verwirrung zu stiften, "nicht nur die AfD - sondern auch lokale Antifa-Gruppen" unterstützen würde. Wobei dieser Artikel von der Faktencheckerin Karolin Schwarz wiederum auf Twitter (@raeuberhose) als "gelinde gesagt erstmal sehr unterkomplex" kritisiert wurde.

Einerseits zeigt die neueste Twitter-Aufregung, dass gut gemeinte Ideen wie Meldefunktionen gegen manipulative Desinformation ebenso manipuliert werden können wie alles andere im Internet. Andererseits zeigen die genannten Beispiele, dass die Online-Gesprächskultur im Großen und Ganzen doch intakt ist. Schließlich dürfte die gestrige Aufregung auch der Jüdischen Allgemeinen eher genützt als geschadet haben. Solange es genügend unterschiedliche, von einander unabhängige Medien (und Infrastrukturen für Medien) gibt, können Fehler und mutmaßliche Fehleinschätzungen am besten ausgeglichen werden.

Digitalsteuer und Distanzierungs-Distanzierung (Neues aus Österreich)

"Die #Politik und die #Medien verbindet Vieles, vor allem aber die Herausforderungen durch globale Vernetzung & technologischen Fortschritt sowie die Verantwortung für ein respektvolles Miteinander."

Frank Walter Steinmeier? Eher die Bundeskanzlerin? Nein, vom Bundeskanzler stammt dieses Zitat, also dem jungen österreichischen. Was Sebastian Kurz zur Eröffnung des "European Newspaper Congress" (bei dem dann auch Friede Springer eine Lebenswerk-Ehrung in Empfang nehmen konnte) sagte, steht komplett auf Youtube. Etwas instruktiver als Medienkongress-Eröffnungsansprachen deutscher Politiker war's, schon weil Kurz mit der "europaweiten Digitalsteuer" immerhin für ein konkretes medien-/netzpolitisches Ziel eintritt. Und "Schubladisierung" (gegen die er natürlich plädiert ...) ist ein hübsches Wort. Doch unterm @sebastiankurz-Tweet mit obigem Zitat kommt gleich wieder Contra vom prominenten deutschen Kurz-Kritiker Jan Böhmermann. Wobei der Entertainer zur Abwechselung nun Worte wählte, die selbst Steinmeier kaum scheuen würde ("Es geht um Fakten, Kritik und schonungs- und manchmal auch respektlose Aufklärung").

Kurzes Update in dieser Sachen: Inzwischen gibt's wegen einer der Aussagen Böhmermanns im ORF-Interview, von denen sich der ORF nach der Ausstrahlung distanzierte (Altpapier), eine Klage eines österreichischen Anwalts gegen Böhmermann "wegen des Verdachts der Herabwürdigung des Staates Österreich" (Standard). Ob die Formulierung "acht Millionen Debile" juristisch angreifbar ist und ob ihr Thomas-Bernhard-Zusammenhang sie besser macht, könnten spannende Fragen für Juristen oder andere Interessenten sein. Außerdem liegt neuer (ebenfalls Standard) eine Distanzierung österreichischer "prominenter Autoren rund um Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek" von der Distanzierung des ORF von Böhmermanns Aussagen vor. Ob es dieser Distanzierungs-Distanzierung mehr bedurfte als der des ORF (der sich, wie im selben Artikel steht, durch ein "höchstgerichtliches Urteil" aus dem Jahr 2002 dazu veranlasst fühlte), ließe sich auch fragen. Vielleicht werden "Tatort"-Kommissars-Darsteller mit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihres Landes oder Staates verwechselt, doch Schriftsteller und sonstige Intellektuelle dürften dieses Problem seit einigen Jahrzehnten nicht mehr haben ...

Zur Gesprächskultur im Internet gehören eben auch die Schleifen und Schleifenschleifen, deren Mechanik sich auch kaum jemand entziehen kann. In diesem Sinne verdient noch Joachim Hubers "Wutausbruch" (Tagesspiegel) über den "Satire-Trump" Böhmermann Aufmerksamkeit.

Nachrichtensender & Rundfunkräte-Wahlkampf

Damit direkt zum deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, um den sich ebenfalls neue Schleifen ziehen. Zum einen hat epd medien nach dem großen Öffentlichkeits-Erfolg der Malu-Dreyer-Aussage, ein öffentlich-rechtlicher Nachrichtensender sei "herzlich willkommen" (Altpapier gestern) das Thema weitergedreht und dazu beim ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm nachgefragt.

Schließlich kann die Mainzer Ministerpräsidentin, wie sie im inzwischen komplett frei online verfügbaren epd-Interview sagt, sich "vorstellen, dass wir uns darauf verständigen, dass die großen Programme im Staatsvertrag klar abgebildet sind und man den Sendern die Möglichkeit gibt, über die Sparten flexibler zu entscheiden". Also dass ARD und ZDF demnächst allein entscheiden dürfen könnten, einen gemeinsamen echten Nachrichtenkanal zu gründen. Diesen Ball stoppt Wilhelm gar nicht erst, um ihn kontrollieren zu können, sondern schießt ihn mit dem Satz "Die Entscheidung über einen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal ist allein Sache des Gesetzgebers" volley zurück ins Feld der Ministerpräsidenten. Oder weit oben auf die Tribüne, damit es lange dauert, bis er wieder ins Spiel kommt. Schließlich hat die ARD mindestens genug offene Baustellen.

Was mittelbar zur Frage der Staatsferne führt, über die Dreyer sagt: "Entgegen der Annahme mancher in der Gesellschaft gibt es für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk keine Staatsaufsicht, es gibt die Gremienaufsicht und in den pluralistischen Gremien wird über diese Frage debattiert." Bloß unterscheidet dieser Gremien-Pluralismus sich vom Pluralismus der Parteien in den jeweiligen Parlamenten halt nicht seehr augenfällig. Auch deshalb hatte der Medienwissenschaftler Hermann Rotermund vergangene Woche gefordert: "Wir sollten die Rundfunkgremien wählen!" (Altpapier, FAZ/ €). Dazu gibt es nun eine Debatte, die den Namen tatsächlich verdient.

Ausgerechnet der von Rotermund ausdrücklich lobend erwähnte Leonhard Dobusch (der als Vertreter des Internets im ZDF-Fernsehrat sitzt und aus diesem bloggt) widerspricht, obwohl er "die von Rotermund formulierten Ziele völlig" teilt, per Gastbeitrag für Deutschlandfunks "@mediasres":

"... die Mitglieder dieser Aufsichtsgremien direkt wählen zu lassen, wie es der Medienwissenschaftler Hermann Rotermund fordert, halte ich dennoch für verfehlt. Der dann zu erwartende Wahlkampf zwischen verschiedenen Listen würde letztlich zu mehr statt weniger Parteipolitik führen. Denn wie sollte bei einer Wahl von Listen deren Bildung entlang von politischen Weltanschauungen verhindert werden? Im schlimmsten Fall würden die jeweiligen Wahlsieger so in die Lage versetzt, öffentlich-rechtliche Medien entsprechend ihrer parteipolitischen Vorstellungen umzubauen."

Stattdessen plädiert Dobusch für "aleatorische Demokratie", nämlich: "zumindest ein Drittel der Mitglieder von Rundfunk- und Fernsehräten per Los zu beschicken."

Hm. Zumindest zeigen die gerade zurzeit oft geführten Prozesse um die Ausstrahlung von Wahlwerbespots (die außerdem die Nachteile des Föderalismus zeigen: weil Gerichte unterschiedlicher Bundesländer über die Ausstrahlungspflicht unterschiedlicher Anstalten unterschiedlich entscheiden), dass Rundfunk viel mit Wahlkampf zu tun hat. Gäbe es da nicht doch die Chance, im Rundfunk um die Rundfunk-Kontrollorgane Wahlkämpfe jenseits der traditionellen Parteienlogik zu führen? Was eine offene Frage ist, keine rhetorische. Diskussionen darüber könnten wirklich spannend werden.

Altpapierkorb (Die Stadt Berlin, Streit bei der SZ, Einkaufsradio, KJM vs. FSM, "Ökumene des Journalismus")

+++ Bertelsmann-Chef Thomas Rabe hat im Stadttheater in Gütersloh vor einer "haushohen" LED-Wand einen Apple-Chef-artigen Auftritt absolviert (Handelsblatt).

+++ Ex-Altpapier-Autorin Juliane Wiedemeier plant "ein politisches Online-Medium für die Berliner Bezirke" namens Die Stadt Berlin. Deutschlandfunks "@mediasres" war bei der Initialveranstaltung.

+++ Aufregung entfachte Julia Bönischs betont provokanter Beitrag zur Reihe "Mein Blick auf den Journalismus" des Journalistengewerkschafts-Hefts journalist ("Wenn ich mir vorstelle, ich wäre ein Journalist, Mitte 50, und würde jetzt bemerken, dass vieles von dem, was ich kann und weiß, nicht mehr wichtig ist...") in ihrem eigenen Haus. Bönisch ist Online-Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung. "Es sind vor allem drei Punkte, die einen Großteil der Redaktion gegen Bönisch aufgebracht haben: die Frauenfrage, die internen Konflikte, die sie nach außen trägt, und ihre Behauptung, es sei nötig geworden, die strikte Trennung von Redaktion und Verlag aufzuheben. In vielen Medien ist das – Digitalisierung hin oder her – ein absolutes No-Go", berichtet Anne Fromm in der taz.

+++ Auf der SZ-Medienseite (€) geht's heute um ein Augsburger Unternehmen, das "Instore-Radios", also radioartige Programme für Supermärkte und andere Ladenketten herstellt, die außer animierender Musik auch Nachrichten enthalten können, dann aber nicht "die neusten Infos zum Salmonellen- oder Gammelfleischskandal" oder "Nachrichten zu Gewalttaten".

+++ Den angloamerikanischen Machern der Sky-HBO-Serie "Chernobyl" gelang immerhin "die erstaunliche schöpferische Leistung, in einer Serie über den schwersten nuklearen Unfall in der Geschichte der Menschheit noch zu dick aufzutragen", heißt's ebd.. +++ Die Serie "findet Bilder für ein Grauen, das mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist", lobt indes die FAZ-Medienseite, auf der Axel Weidemann aber auch Einwände hat.

+++ Von ganz neuem Streit unter den vielfältigen Medienwächter-Institutionen weiß die Medienkorrespondenz: KJM contra FSM. Die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten und die Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter streiten über den Standard age-de.xml, der nur auf Windows-Computern funktioniere, aber nicht auf Smartphones, die Jugendliche längst viel mehr benutzen, schreibt Volker Nünning.

+++ Und "Ökumene des Journalismus" nennt Ex-Investigativjournalist Hans Leyendecker Rechercheverbünde wie den aus SZ, NDR und WDR. Sagte er kürzlich epd medien, das dem künftigen Evangelischer Kirchentags-Präsidenten nun zum 70. Geburtstag gratulierte.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.