Das Altpapier am 07. Mai 2019 Twitter gegen Grundgesetz
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Das “trotzige Bestreben, eine Aussage bewusst verkürzt verstehen zu wollen“, eint so manche Kühnert-Interview-Exegeten in Medien und Politik. Ein Rechtsanwalt bekommt wegen eines alten Witzes “digitalen Stubenarrest“. Die AfD hat eine neue Opferinszenierungs-Episode zu bieten. Ein Altpapier von René Martens.
Dass die re:publica “erwachsen“ geworden sei, haben Journalisten der Veranstaltung und ihren Besuchern bereits vor zwei Jahren attestiert - beziehungsweise, oops, sogar schon vor neun Jahren.
Nun ist möglicherweise ein neuer Reifegrad erreicht. Sebastian Leber spricht nach dem ersten Tag der re:publica 2019 in einem Kommentar für den Tagesspiegel jedenfalls von der “erstaunlichen Ernsthaftigkeit der Netzgemeinde“. Hier sammle sich nämlich “das Lager derer, die im Zweifel immer für Vernunft und Aufklärung eintreten, für Wissenschaft, Presse- und Meinungsfreiheit.“
Mich hat dabei vor allem die Formulierung “im Zweifel immer für Vernunft und Aufklärung“ geflasht, trotz aller tendenziellen Pastoralität. Ich war nämlich gestern auf der Suche nach einer Umschreibung der Gruppe jener Zeitgenossen, die Kevin Kühnert, Armin Wolf und Greta Thunberg in den vergangenen Tagen und Wochen auf sehr unterschiedliche Weise gegen sich aufgebracht haben. Den Gegnern von Kühnert, Wolf und Thunberg - möglicherweise kein schlechter Name für ein Jazz-Trio übrigens - verdanken wir ja immerhin einen Teil des Rohstoffs, aus dem hier Kolumnen entstehen.
In Abwandlung von Lebers Zitat lässt sich nun sagen, dass die Mitglieder dieser großen losen Gruppe gemeinsam haben, dass sie stets gegen Vernunft und Aufklärung eintreten.
Armin Wolf war sozusagen der Mann der vergangenen Woche (Altpapier, Altpapier, Altpapier). Greta Thunberg steht zwar tagesaktuell weniger im Mittelpunkt, dafür aber im Zentrum einer ausgeruhten Analyse Georg Seeßlens für die aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Jungle World:
Nach Greta Thunbergs Auftritten bei Konferenzen und Empfängen, bei denen sie das Anliegen der 'Fridays for Future‘-Bewegung ohne diplomatische Verklausulierungen und ohne medienkonventionelle Inszenierungen vorbrachte, häuften sich die gehässigen, diskreditierenden Kommentare im Netz. Man sagt, sie stammen hauptsächlich von rechten Männern, was sowohl die Sprechweisen als auch die Motive nahelegen: weiblich, jung, 'psycho‘, natürlich ferngesteuert und medial missbraucht. Die Hysterie, mit der die Reaktionen vorgetragen werden, mag darauf schließen lassen, dass da eben das gewohnte Feind- und Hassbild gar nicht so leicht zu konstruieren ist und dass, vielleicht, eine Konkurrenz entsteht, wo Politik wieder mit Emotion und Dramatik besetzt werden kann. Hier könnte, wer weiß, dem negativen Charisma der Rechtspopulisten ein positives Gegenbild erwachsen.“
Die Aufarbeitung der Reaktionen auf Kevin Kühnerts Interview in der Zeit - um auf den Dritten aus dem imaginären Jazz-Trio zurückzukommen - ist dagegen noch tagesaktuell in vollem Gange. Samira El Ouassil schreibt bei Übermedien:
“(Es) scheint tatsächlich leider ein Gros der Kommentatoren, Politiker und Vom-digitalen-Spielfeldrand-in-den-Diskurs-Reinrufer tatsächlich nur Zusammenfassungen des Gesprächs gelesen zu haben – Zusammenfassungen, die fälschlicherweise mit dem Wort 'Verstaatlichung‘ titeln.
Sie argumentiert ähnlich wie Klaus Raab gestern an dieser Stelle (“Da sagt jemand 'Sozialismus‘ und 'BMW‘ in einem Interview – und schon wird ihm die Forderung unterstellt, er wolle einen Konzern enteignen oder die DDR beleben“), wenn sie schreibt:
“Bild behauptet (…), Kühnert wolle BMW enteignen, und nennt die von Kühnert eben nicht geäußerte Forderung einen 'irren Vorstoß‘. Man fragt aufgeregt: 'Wie viel DDR steckt in der SPD?‘“
Als beim MDR erscheinende Kolumne müssen wir natürlich noch darauf verweisen, dass es eine bei eben diesem Sender beschäftigte Redakteurin war, die am Donnerstag in den “Tagesthemen“ den Gaga-Faktor der Bild-Zeitung noch zu toppen versuchte:
“Das ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen im Osten, die auf die Straßen gegangen sind, um den real existierenden Sozialismus abzuschaffen.“
Immerhin: Ich habe beinahe Tränen gelacht an diesem Abend, und das passiert einem bei einem “Tagesthemen“-Kommentar ja äußerst selten.
Samira El Ouassil analysiert:
“Die Reflexhaftigkeit und das trotzige Bestreben, eine Aussage bewusst verkürzt verstehen zu wollen, erinnert an die Reaktionen auf Merkels 'Wir schaffen das‘, als ein kleiner Teil eines langen Gesprächs plötzlich als pars pro toto einer willentlich falsch interpretierten Aussage stehen musste, an der sich die Journalisten tagelang und grundlos die Finger wundstaunten.“
Mich erinnert das “trotzige Bestreben“ von Politikern und Journalisten in dieser Angelegenheit übrigens eher an das Verhalten von Dienstboten, die sich mit ihren Herren überidentifzieren. El Ouassil schreibt weiter:
“Ich behaupte, einige Medien haben sich willentlich den Umstand zunutze gemacht, dass der Zeit-Text nicht kostenfrei verfügbar ist. Schaut man sich die Interaktionszahlen bei Twitter und Facebook an, wurden mehrheitlich die Zusammenfassungen und Zweitverwertungen geteilt und geliked, sichtbar mehr als die Quelle. Als dann das gesamte Interview zirkulierte und so auch für Nichtabonennten einsehbar war, war die Kühnert-Forderung nach einer anstehende Verstaatlichung schon längst beschlossene Sache in der Presse, Venezuela schon direkt vor unserer Tür.“
Und um Kevin Kühnert geht es auch in Margarete Stokowskis Spiegel-Online-Kolumne.
“Orwellsche Reinräume“
Ein drei Jahre alter Witz über AfD-Wähler beschäftigt uns hier normalerweise nicht. Heute allerdings schon, weil Twitter Deutschland deswegen zeitweilig den auch im Altpapier hin und wieder zitierten Medienrechtsexperten Thomas Stadler gesperrt hat - und aus ähnlich absurden Gründen auch andere.
“Hintergrund ist die Twitter-Richtlinie zur 'Integrität von Wahlen‘. Die soll verhindern, dass durch Fakes die Debatte vor den Wahlen verfälscht wird. Geblockt wurde dann aber unter anderen das Konto der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD), wegen eines Posts, der mit der EU-Wahl gar nichts zu tun hatte“,
schreibt Frederik Schindler in der taz. Neben Stadler und Chebli sind/waren laut der Rechtsanwältin Nina Diercks noch mindestens drei weitere Nutzer betroffen. Bei der taz gibt’s noch einen zweiten Artikel zum Thema: Carolina Schwarz hat Karolin Schwarz interviewt - auch wenn das auf den ersten Blick verwirrend klingen mag. Schwarz (also Karolin, die Expertin) sagt:
“Die Fälle weisen darauf hin, dass Leute sich bewusst organisieren, um zu bewirken, dass Accounts gesperrt werden (…) Ich gehe aber davon aus, das bei Twitter jetzt nachgesteuert wird, damit die Meldefunktion besser funktioniert.“
Ihr Fazit:
“Meiner Meinung nach ist es ein klassischer Fall von 'gut gemeint, aber nicht gut umgesetzt.‘ Das zeigt sich allein an dem Overblocking, das jetzt schon passiert. Zudem fehlen eindeutig Informationen über die Vorgänge von Twitter, also beispielsweise, wer die Meldeverfahren moderiert.“
Thomas Stadler hat dazu am Wochenende zwei Beiträge gebloggt, die er am Montag jeweils aktualisiert hat (diesen und diesen). Er schreibt unter anderem:
“Fassen wir also zusammen: AfD-Anhänger melden systematisch Tweets, die ihnen missfallen. Twitter sperrt wegen eines einzelnen Tweets, der erkennbar zulässig und rechtlich nicht zu beanstanden ist, den Zugriff auf meinen Account. Während der “Einspruch“ geprüft wird – was vermutlich bei Twitter auch Wochen dauern kann – bleibt der Zugriff auf den eigenen Account gesperrt. Das kann man verhindern, indem man seinen Einspruch zurückzieht. Das Groteske daran ist, dass andere Twitter-Nutzer überhaupt nicht erkennen können, dass man gesperrt ist (…) Ich denke, es ist höchste Zeit, dass der (europäische) Gesetzgeber Meinungsplattformen wie Twitter und Facebook klare Vorgaben zum Beschwerdemanagement macht.“
Außerdem betont er, dass
“es (…) nach aktueller Rechtsprechung auch so (ist), dass soziale Netze gewährleisten müssen, dass äußerungsrechtlich zulässige Postings nicht gelöscht werden. Die Sperrung meines Accounts durch Twitter stellt also eine klare Vertragsverletzung von Twitter mir gegenüber dar“.
Die bereits erwähnte Nina Diercks weist darauf hin, dass Twitter mit volkshetzenden Posts sehr oft kein Problem hat, mit “ironischen Tweets, die vom Grundgesetz rundum geschützt sind“, aber schon. Und Hendrik Wieduwilt schreibt in einem FAZ-(€)-Kommentar, in dessen Überschrift die hübsche Formulierung “digitaler Stubenarrest“ vorkommt:
“Für Ironie, Überspitzungen und Zwischentöne wird der Raum enger. Dieser Weg führt in orwellsche Reinräume und Seichtheit, er droht das Geistesleben zu lähmen.“
Die Gefährdung des “linken Gedächtnisses“
Aus ganz andern Gründen eine Lähmung des Geisteslebens droht - Stammleser dieser Kolumne wissen, dass sie hier gerade Zeuge eines nicht untypischen Altpapier-Übergangs werden - laut Tom Strohschneider. Im Aufmacherartikel der neuen Ausgabe von Oxi, der “dezidiert linken, aber schön weltoffenen Monatszeitung“ (Altpapier) macht er sich Sorgen um kleine linke Medien:
“Die Probleme kleiner Verlage, Medienproduktionen, Zeitungen und so fort sind nicht dieselben wie jene der Großen, der Konzerne. Es macht einen Unterschied, ob man sich bei Nichtfunktionieren der Formel G-W-G’ einfach ein neues Geschäftsmodell suchen kann. Oder ob mit der ökonomischen Krise der Produktion, Verteilung und Aneignung sich die Probleme auf einen Punkt zuspitzen, an dem die Voraussetzungen kritischen Denkens fehlen. Aufklärung lässt sich nicht durch ein neues Produkt ersetzen.“
Strohschneider befürchtet konkret:
“Es ginge nicht nur Zukunft verloren (von den Jobs ganz zu schweigen), sondern auch Wissen um vergangene Versuche, diese Zukunft in progressiver Absicht zu verändern (…) So notwendig das linke Gedächtnis ist, so ökonomisch gefährdet ist es mit der Krise linker Verlage und Zeitungen: Wie halten wir es zugänglich, wenn die heutigen Träger dies nicht mehr können? Wer vertritt und erneuert dieses Gedächtnis, wer bereitet es den Heutigen auf?“
Dass “kleine linke Zeitungen und kritische, theoretische Zeitschriften“ keine gemeinsame Interessenvertretung haben, bemerkt Strohschneider auch. Wie es konkret gerade welcher kleinen Zeitschrift oder Zeitung (zum Beispiel der eigenen) geht, steht in dem Text nicht. Würde ich bald gern mal lesen (aber nicht selbst schreiben; ja, manchmal gibt’s solche Themen).
Zu den kleinen linken Medien, die gerade im Gespräch sind, gehören die Beobachter News - wobei die Macher auf diese Art der Aufmerksamkeit gern verzichten würden, schließlich basiert sie Morddrohungen gegen ihre Macher (siehe Altpapier von Montag).
Aktuell schreibt der bedrohte Chefredakteur Alfred Denzinger über AfD-Leute, die in Fellbach bei Stuttgart ihren eigenen Wahlkampfstand “zerlegten“, um sich der Polizei als Antifa-Opfer darstellen zu können. In einem teilweise redundanten Beitrag ordnet Der Volksverpetzer diese strategische Maßnahme in einen größeren Kontext ein - unter Einbeziehung der berüchtigten Bremer Kantholz-Legende (Altpapier):
“Es ist das gleiche Narrativ, das hundertfach von der (…) Partei verwendet wird (…) Von körperlichen Auseinandersetzungen, zerstörten Ständen, Flyern und Plakaten kann jede Partei ein Lied singen. Die AfD ist jedoch die einzige, die ihren Wahlkampf darum konstruiert. Und dazu scheut sie nicht davor zurück, Vorfälle zu stellen, Unwahrheiten zu verbreiten und über Ereignisse zu lügen.“
Altpapierkorb (Berliner Lokaljournalismus, Grand Theft Europe, ORF, Maxim Biller)
+++ Steht der Lokaljournalismus in Berlin vor einer neuen Blüte? Darauf gibt es derzeit zwei Antworten. Die allgemeine lautet: Vielleicht. Anja Zimmer, die Direktorin der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB), hat jedenfalls auf der Media Convention gerade angekündigt, “die Medienlandschaft vor allem auf der Ebene des Lokaljournalismus durch neue Förderwege zu unterstützen“, wie der Tagesspiegel schreibt. “Die Länder Berlin und Brandenburg suchen gerade nach Wegen, wie das erreicht werden kann.“ Eine konkrete Antwort lautet aus ganz anderen Gründen: Ganz bestimmt. Ex-Altpapier-Autorin Juliane Wiedemeier hat nämlich ein neues Projekt. Es geht um politischen Lokaljournalismus für Berlin. Am Samstag findet ein Workshop statt.
+++ “Sonntagabend sind Leser eher bereit, ein Digital-Abo bei der Nachrichtenseite ihres Vertrauens abzuschließen als am Samstagmittag (…) Seit wir das wissen, steuern wir unsere Plus-Artikel gezielter aus – mit zunehmendem Erfolg.“ So lautet eine der Erfahrungen, die Sascha Borowski, Digitalchef der Augsburger Allgemeinen, nach einem halben Jahr Paid Content in seinem Blog mitteilt.
+++ Dass sich viele, viele Regional- und Lokalzeitungen am Tag der Pressefreiheit nicht mit Ruhm bekleckerten, rekapituliert Stefan Niggemeier für Übermedien. Es geht um ein von der BDZV-Pressesprecherin Anja Pasquay geführtes Interview mit dem Maler Norbert Bisky, der ein Kunstwerk zum Pressefreiheits-Tag angefertigt hat. Niggemeier schreibt: “Viele Medien haben nicht nur das Bild von Bisky abgedruckt, sondern auch (das) Interview, das der BDZV dazu verbreitet hat (…) Einige Zeitungen geben es aber als eigenes Interview aus. In der Berliner Morgenpost stellt die Berliner Morgenpost die Fragen an Bisky; in der Pforzheimer Zeitung ist es ein ‚PZ-Interview‘; in der Mitteldeutschen Zeitung heißt es: ‚Darüber sprach mit ihm für die MZ Anja Pasquay.‘“
+++ Das aktuelle internationale Mega-Recherche-Projekt firmiert unter dem Titel Grand Theft Europe. Den “größten laufenden Steuerbetrug Europas“, der mit Hilfe von “Umsatzsteuerkarussellen“ geschieht, haben unter der Regie von Correctiv 63 Journalisten aus 30 Ländern recherchiert.
+++ Mehr vom ersten Tag der re:publica 2019: Meike Laaff greift für Zeit Online die Auftaktrede der gestern an dieser Stelle bereits erwähnten kenianischen Netzaktivistin Nanjira Sambuli auf, die empfahl, “infrage zu stellen, wer gestaltet, was im Netz geschieht. Wer als Creator teilnehmen darf. Und wer als Experte wahrgenommen wird. Was sie damit meint: Häufig sind es westlich, weiß und männlich dominierte Zirkel, die im Netz wichtige Entscheidungen treffen. Diese Strukturen aufzubrechen, das empfiehlt längst nicht nur Sambuli.“
+++ Unter anderem mit den Worten “wie Sie wissen, darf Satire alles“ hat sich am Montag eine Moderatorin des ORF im Namen des Senders von Äußerungen Jan Böhmermanns in der Sendung “Kulturmontag“ “distanziert“, bei denen es sich ganz und gar nicht um Satire handelte. Der Standard berichtet.
+++ Eine Art Nachruf auf Maxim Billers FAS-Kolumne “Moralische Geschichten“, die nach 18 Jahren eingestellt wird, hat Ulrich Gutmair für die taz geschrieben.
+++ Das aktuelle epd-medien-Tagebuch kommt als Dramolett daher, in dem unter anderem Mathias Döpfner und Karola Wille auftreten und das Altpapier und Jean-Claude Juncker vorkommen.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch!