Das Altpapier am 06. Mai 2019 Gelenkte Aufmerksamkeit
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Nein, er hat eigentlich nicht die Enteignung von BMW gefordert: Das “Zeit“-Interview mit dem Juso-Chef wird vom medialen Reflexbedienungsbetrieb als lange Fußnote zur Social-Media-Kachel wahrgenommen. Und Armin Wolf erfährt auch nach dem Tag der Pressefreiheit weitere Solidaritätsbekundungen. Ein Altpapier von Klaus Raab.
“Die Wahrheit ist doch, dass unsere Gesellschaft schon lange nicht mehr systemisch diskutiert“ (Kevin Kühnert). Also würde ich vorschlagen, dass wir an dieser Stelle heute einmal über Reflexe sprechen.
Ich, zum Beispiel, hatte am Wochenende einen Reflex, den man von Teenagern kennt, die sich Songs gerade deshalb anhören, weil sie von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurden. Hans Hoff hat in seiner DWDL-Kolumne eine Sendung verarztet, für die alle Beteiligten “später mal in die Hölle“ kämen, wie er schreibt. Es geht dabei um ziemlich private Dinge mit Nackten, und weil das alles so sagenhaft blöd ist, nennt Hoff keine Namen – weder den des Senders noch den von Akteuren noch den Titel der Sendung. Er setzt auch keinen Link, “um nicht unnötig Werbung für diese audiovisuelle Katastrophe zu machen“.
Als Einblick in die Abgründe des Unterhaltungsfernsehens funktioniert die Kolumne gut. Der Reflex, der bei mir ausgelöst wurde, war allerdings, dass ich dringend herausfinden musste, worum es geht. Wenn etwas so beknackt ist, dass man es nicht mit seiner Aufmerksamkeit belohnen soll, dummerweise aber bereits Aufmerksamkeit in die Rezeption eines Texts darüber investiert hat, will man doch wenigstens wissen, was man nicht wissen soll… . Und was kann ich sagen, nun, da ich im Bilde bin? Ja, das Online-Programm rund um “Naked Attraction“ von RTL2 ist wirklich erstaunlich bekloppt.
Die Kalkulierbarkeit der Reflexe
Die Reflexe funktionieren auch anderswo, zum Beispiel in der Diskussion über das Interview, das Juso-Chef Kevin der Wochenzeitung Die Zeit gegeben hat (siehe auch Altpapier vom Freitag). Kühnert hat darin bekanntlich vorgeschlagen, BMW zu enteignen. Oder war es… kollektivieren? Oder verstaatlichen? Oder… was gleich nochmal?
An dieser Stelle knüpft Patrick Bahners in einer Kolumne im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an:
“Dem Interview auf Seite acht der aktuellen Ausgabe gab die Redaktion die Überschrift: 'Was heißt Sozialismus für Sie, Kevin Kühnert? – Zum Beispiel die Kollektivierung von Firmen wie BMW, sagt der Chef der Jusos.‘ Und so las man es dann auch in anderen Blättern: Kühnert will BMW enteignen’ oder 'will BMW kollektivieren‘. Die Überschrift der 'Zeit‘ war in der Sache nicht falsch. Aber die Blattmacher hatten es auf eine Lenkung der Aufmerksamkeit abgesehen, die an Irreführung grenzt.“
“Lenkung der Aufmerksamkeit“ ist eine schöne Einordnung. Das Beispiel BMW, zu dessen Wahl sich viele Kritiker äußerten – von Autobild bis eigentlich Kühnert wohlgesonnene Genossen –, wurde schließlich von den Interviewern aufgebracht, nicht von Kühnert. Die hätten ihn, schreibt Bahners, auf “das Glatteis der Praxis“ gelockt, als sie ihn fragten: “Dürfte es im Sozialismus BMW geben, die Deutsche Bank, Siemens?“ Auf das Beispiel BMW kam das Interview anschließend immer wieder zurück, allerdings immer in seiner Funktion als bereits eingeführtes Beispiel. Bahners:
“Wie die Resonanz auf das Interview zeigte, hatten die Interviewer die Stimmung großer Teile der berufsmäßigen Öffentlichkeit ganz richtig eingeschätzt. Ihre Frage mit den Beispielen enthüllt, was man in ihrem Milieu nicht in Frage stellen darf.“
Nun ist es nicht ganz unüblich geschweige denn zwingend unredlich, Politiker “aufs Glatteis der Praxis“ zu locken. Friederike Haupt kommentiert, ebenfalls in der FAS – wobei es allerdings um den Fall Armin Wolfs geht: Das Gefährlichste, was Nachrichtenmoderatoren täten (aber es gilt sicher auch für Print-Interviewer), sei, Politikern Fragen zu stellen.
“Wenn sie sich über Fragen ärgern, können sie das sagen. So wie Sigmar Gabriel vor ein paar Jahren Marietta Slomka anfuhr, ihre Argumente seien 'Blödsinn‘, er könne die 'nicht wirklich ernst nehmen‘. Sie protestierte. Er auch. Schlechte Stimmung, steinerne Gesichter. Fertig.“
Frappierend ist aber – nun wieder zurück zum Kühnert-Interview – die Kalkulierbarkeit der Reflexe, die berechnen zu können wohl als Qualitätsmerkmal gilt. Es scheint ausgemacht zu sein, dass so ein Interview nicht im Gesamtzusammenhang, sondern als Aneinanderreihung von singulären Sätzen gelesen und als lange Fußnote zu Titelei, Kacheln und Tweets diskutiert werden wird. Da sagt jemand “Sozialismus“ und “BMW“ in einem Interview – und schon wird ihm die Forderung unterstellt, er wolle einen Konzern enteignen oder die DDR beleben. Wäre Kühnerts Interview ein Text, der zur Lektüre in einem Grundkurs “Politische Systeme“ bestimmt ist, würde man ausgelacht, wenn man eine Forderung nach der Kollektivierung von BMW darin läse. In der medialen Debatte scheint es aber keinen großen Unterschied zu machen, ob jemand einen Gesetzesentwurf einbringt oder im Rahmen einer Diskussion über politische Systeme zur Veranschaulichung ein vorgegebenes Beispiel aufgreift. Am Ende kommt das Etikett “Forderung“ drauf.
Der mediale Reflexbedienungsbetrieb
Das freilich weiß sicher auch Kevin Kühnert, weshalb man ihm vielleicht nicht unbedingt unterstellen sollte, er habe die Aufregung, die das Interview auslöst, nicht geahnt oder nicht gewollt. Er hat die der Veröffentlichung folgenden Empörungsschleifen sogar schon im Interview vorweggenommen: “Die Wahrheit ist doch, dass unsere Gesellschaft schon lange nicht mehr systemisch diskutiert“ (bzw. “Unsere Gesellschaft diskutiert leider schon lange nicht mehr systemisch“). Der Mann weiß offensichtlich, dass in der digitalen Medienökonomie Texte am Fließband produziert werden müssen.
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der sich mittlerweile in Meinungsstücken als Generalsekretär auslebt, wirft dem Juso-Chef nun in einem Handelsblatt-Beitrag vor:
“Trotz seines abgebrochenen Studiums der Kommunikationswissenschaften beherrscht er die Regeln des hektischen politischen Medienbetriebs offenbar nahezu perfekt. Wo die Halbwertszeiten der politischen Themen immer kürzer werden und sich die durchs Dorf getriebenen Säue gegenseitig überholen, muss man einfach mal die 'Systemfrage stellen’.“
Und:
“Wer als Sozialdemokrat die Enteignung und Sozialisierung großer Industrien fordert (gemeint ist natürlich Verstaatlichung, das klingt aber nicht so schön), dem ist die Aufmerksamkeit der Medien gewiss. Im Handumdrehen steht man im Mittelpunkt einer aufgeregten öffentlichen Debatte. Fast so, als stünde Deutschland kurz vor der Ausrufung der Sowjetrepublik.“
Während die FAS also den Fokus auf die Interviewer richtet, heißt bei Sigmar Gabriel der entscheidende Akteur der Aufregungsproduktion Kevin Kühnert. Beide aber gehen im Grunde davon aus, dass der politische Medien- ein Reflexbedienungsbetrieb ist.
Die “vorsätzliche Entsachlichung des Diskurses“
Wie viele Wochenenden war auch das zurückliegende ausersehen, bereits schwelende Medienthemen weiterzuköcheln. Außer um Kühnert ging es auch weiterhin – und auch im Zusammenhang mit dem Tag der Pressefreiheit am Freitag – um den oben schon erwähnten ORF-Moderator Armin Wolf, dessen Rauswurf lächerlicherweise aus den Reihen der österreichischen Regierungspartei FPÖ gefordert wurde (Altpapier, Altpapier, Altpapier).
In der FAS verteidigt ihn nicht nur Friederike Haupt auf der Meinungsseite, sondern auch Tobias Rüther in der “Teletext“- Kolumne neben dem Fernsehprogramm (“Wenn man etwas aus dem Fall FPÖ versus Armin Wolf lernen kann, dann ist das: kühle Entschiedenheit im Selbstverständnis“, 0,45 € bei Blendle) – eine Dublette, die man sich eingehen lässt.
Dass Wolf auf seine Ankündigung hin, zu bleiben, massiv beleidigt und beschimpft werde – und nicht nur anonym –, das passiere “nicht einfach so“, schreibt Haupt. “Es ist die Folge jahrelanger Kampagnen der FPÖ gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Österreich. In Deutschland arbeitet die AfD sich auf ähnliche Weise an ARD und ZDF ab.“ Das sei nicht in erster Linie “das Problem der Journalisten, die eingeschüchtert werden sollen, sondern der Öffentlichkeit, die solche Journalisten braucht“.
Der Text, den Armin Wolf selbst als “eine der bisher lesenswertesten Reflexionen über die Aufregung der letzten Tage“ bezeichnet hat, steht auf dem Blog der Salonkolumnisten. Journalistische Qualitätsstandards, heißt es da, “(s)elbstkritische Reflexion und Distanz zur eigenen Arbeit“ seien “für den Medienbetrieb genauso unabdingbar wie Hygienevorschriften in der Lebensmittelbranche oder Qualitätsnormen in der Industrie. Mit all dem hat die Kampagne der FPÖ jedoch nichts zu tun.“
Vielmehr handle es sich um einen von der FPÖ inszenierten Skandal, mit dem man “von der eigentlichen Sache ab- und auf eine ganz andere Sache umlenkt“ – die Zukunft des gebührenfinanzierten Rundfunks. Es gebe “nachvollziehbare Vorbehalte sowohl gegen die Ausstattung als auch die Gebührenlogik öffentlich-rechtlicher Anstalten, die im Internet beispielsweise zu einem unlauteren Wettbewerb zu Ungunsten der freien Presse führt“. Aber:
“Die lautesten Gegner jeder Form des angeblichen 'Staatsfunks‘ sind oft diejenigen, die sich dann, wenn sie an der Macht sind, unkritische Regierungsmedien bauen – also echten Staatsfunk. Ähnliches gilt für die politische Auseinandersetzung. Journalistische Inhalte oder gar Journalisten persönlich zu diffamieren, weil sie einer anderen Meinung nutzen könnten als der eigenen, ist keineswegs nur am rechten Rand des Parteienspektrums verbreitet. Vielmehr ist die vorsätzliche Entsachlichung des Diskurses zu Gunsten von Emotionalisierung, Skandalisierung und Panikmache bei beinahe jedem wichtigen gesellschaftlichen Thema momentan eher die Regel als die Ausnahme – von Zuwanderung über Dieselverbot bis Klimawandel.“
Und, ja: Eigentum.
Sowie natürlich, nicht zu vergessen, das Ranking der beliebtesten Vornamen neugeborener Kinder in Deutschland.
Altpapierkorb (re:publica, ADAC-Magazin, Wikileaks, Lisa Maria Potthoff)
+++ Heute beginnt die re:publica in Berlin. Beim Tagesspiegel wird sie mit einem Text von Nanjira Sambuli über “tl;dr als 'modus operandi’“ und die Unlust, Nutzungsbedingungen zu lesen, eröffnet: “Erst langsam fangen wir an zu erkennen – einige schmerzhafter als andere -, dass tl;dr als 'modus operandi' ernsthafte Kosten mit sich bringt. Auf der einen Seite bedeutet die Digitalisierung zwar, dass wir besser informiert, engagiert und aufgeklärt sind. Auf der anderen Seite aber werden wir zunehmend desillusioniert. Wir müssen erkennen, dass wir mitunter den großen Zusammenhang aus dem Blick verloren haben.“
+++ Möglicherweise macht Burda bald das ADAC-Mitgliedermagazin – schreibt die SZ. “Ein halbes Dutzend Medienhäuser hat sich um den Auftrag beworben, dessen Volumen im dreistelligen Millionenbereich liegt.“ Zwei Bewerber seien noch übrig. Burdas Konkurrent sei “dem Vernehmen nach“ Axel Springer.
+++ Twitter verkürzt den Kontakt zwischen Medium und Publikum – aber nur theoretisch. @leonceundlena schreibt bei medium.com: “Medien sind durch die Verbindung zu den Autorinnen via Twitter persönlicher geworden. Dadurch fehlen jedoch Filterfunktionen, und die Beschleunigung ist auch in Bezug auf den Austausch spürbar. Was im Gewand einer Demokratisierung der Kommunikation daherkommt, ist langfristig nicht mehr als die Illusion eines Austausches.“
+++ Dass der Chefredakteur der Beobachter News eine Morddrohung erhalten habe, “die an der Motivlage der Täter keine Zweifel aufkommen lässt“, berichtet die Frankfurter Rundschau: “Die Redaktion des kritischen Nachrichtenmagazins 'Beobachter News‘, die über das politische Geschehen im Südwesten der Republik berichtet, ist schon seit Längerem im Visier von Neonazis. Insbesondere der Chefredakteur Alfred Denzinger wird regelmäßig attackiert: So wurden bereits vier Farbanschläge auf dessen Wohnhaus und sein Auto verübt, hinterlassene Symbole wie Hakenkreuze lassen eindeutig auf eine neonazistische Täterschaft schließen.“
+++ Medienjournalist Daniel Bouhs fasst im Deutschlandfunk Kultur (zitiert nach dem Text auf der Website des Senders) sein Ergebnis der zum 1. Mai in Kraft getretenen Änderungen des Rundfunkstaatsvertrags zusammen: “Es gibt weniger Texte auf den Webseiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter.“ Er sieht das kritisch: “In Recherchen, Diskussionen über politische Entwicklungen im Netz oder Debattenbeiträgen auf Nachrichtenportalen werde vor allem auf Texte verwiesen“.
+++ Was Kevin Kühnert in der online-only Langfassung des Zeit-Interviews übrigens auch nicht fordert, ist eine Reform des Rundfunkgebührensystems: “ein weiterer Schritt wäre es, wegzukommen von gebührenfinanzierten Systemen. Wir nehmen Gebühren für den öffentlichen Nahverkehr, für die Bibliothek, fürs Schwimmbad, aber anders als bei der Steuererhebung fragen wir dabei nicht nach den Einkommensverhältnissen der Nutzer. Für ein Tagesticket zahlt der Manager genauso viel wie sein Arbeitnehmer. Das finde ich nicht gerecht.“
+++ Fernsehfilm der Medienseiten des Tages: “Sarah Kohr – Das verschwundene Mädchen“ (ZDF, 20.15 Uhr). Über Hauptdarstellerin Lisa Maria Potthoff schreiben etwa Tagesspiegel und, in der SZ, Altpapier-Kollegin Kathrin Hollmer. Die FAZ konzentriert sich stärker auf den Film.
+++ Der Spiegel (€) berichtet von Mäusen in provisorischen WDR-Redaktionsräumen in den Kölner WDR-Arkaden…
+++ …und hat ein Interview mit dem neuen Wikileaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson geführt, der sagt (ebenfalls Bezahlinhalt): “Wenn Sie ein Journalist sind und Sie nicht für die Informationsfreiheit kämpfen, für Verantwortlichkeit und Transparenz, sind Sie in meinen Augen kein Journalist. Ich bin überzeugt, dass der Kampf für die Freiheit von Julian Assange der bisher größte Kampf für die Pressefreiheit im 21. Jahrhundert ist.“
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag!