Das Altpapier am 15. April 2019 Allwissende Zweifel
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Beim Reporter-Forum spielt der Nachwuchs Relotius-Bingo. Georg Mascolo verlangt mehr vom Medienjournalismus. Die FAZ hat vielleicht einen Neuen. Und bei KKR vergleicht man die Bewegtbild- mit der Musikindustrie. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die Journalismusbranche hat sich dieser Tage stark mit sich selbst beschäftigt. Und was hat sie gefunden? “Verunsicherung und Verwirrung“, schreibt Stefan Niggemeier. Wie Elena Witzeck und Barbara Nolte berichtet er vom Reporter-Forum in Hamburg, wo es ums Schreiben nach dem Fall Relotius ging; Niggemeier bei Übermedien (frei derzeit nur mit Abo), Witzeck im FAZ-Feuilleton (frei derzeit ebenfalls nur mit Abo), Nolte im Tagesspiegel:
Der Gesamteindruck nach der Lektüre der Berichte ist, dass manche Debatte vorankam, dass vor allem aber auch viele latent aneinander vorbeiredeten. “Es gab viele Vorschläge an diesem Tag, was sich ändern muss“, fasst Übermedien zusammen: “Weniger Erzählen aus der Perspektive eines Allwissenden, mehr Zweifel zulassen, mehr Quellen nennen und verlinken, häufiger in Teams arbeiten, mehr Formen zulassen und weniger Reportagen nach Baukastenschema aus dem Lehrbuch bauen.“
Insgesamt beschreibt Stefan Niggemeier das Forum als Veranstaltung, deren Teilnehmer alle “nacheinander etwas sagen, was im Zweifel mit dem davor nichts zu tun hat“. Den Eindruck, dass einiges durcheinander geht in der Maßstabsdebatte, teilt auch die FAZ: “Reihum werden Reporter gefragt, was sie an ihrer Arbeit geändert hätten. Sieben Antworten, sieben Positionen“.
Witzeck bemerkt allerdings bei aller Unterschiedlichkeit der Gedanken auch eine gewisse Redundanz: “Einige junge Journalisten spielen bald Relotius-Bingo, so beständig fallen im Zusammenhang mit der Betrugsaffäre dieselben Begriffe.“ Was könnten solche Bingo-Wörter sein? Allwissenheit, Zweifel, Narrativ, Zeitdruck, Reißbrett, Baukasten…? Sie fallen jedenfalls alle in den Texten übers Reporter-Forum.
Zu kurz gekommen sei die Frage nach gemeinsamen ethischen Standards der journalistischen Arbeit, schreibt Witzeck: “Ist es erlaubt, einen Aspekt aus dem Leben eines Menschen auszuwählen und größer zu machen, als er womöglich ist?, fragen sich die Jüngeren unter den Reportern. Eine klare Antwort bekommen sie nicht.“
Klare, am Ende noch verbindliche Antworten – ja, das wäre natürlich was. Andererseits kann es die auf solche Fragen kaum geben. Ein Lehrbuch, auf das zum Berufseintritt alle ihren Eid schwören, wird nicht entstehen, wenn 300 Journalisten aus unterschiedlichen Häusern diskutieren… Entscheidend ist aber vielleicht auch gar nicht, ob “die Branche“ sich auf etwas einigen kann, sondern ob jedes einzelne Haus in Bewegung gerät. Der Tagesspiegel schreibt etwa über die Welt:
“Um die eigene Arbeit für den Leser transparenter zu machen, wie die Investigativ-Reporterin der 'Welt‘- Gruppe, Tina Kaiser, erklärt, hat sie mit Kollegen einen Sieben-Punkte-Plan erstellt. Demnach dürfen Fehler online nur noch sichtbar korrigiert werden. In einem weiteren Punkt werden Reporter aufgefordert, Selfies von sich bei der Recherche zu machen. Kernstück ist, dass in einem Artikel auf alle Quellen verlinkt werden soll. Und anonyme Personen soll es nur noch geben, wenn dies ausdrücklich von der Chefredaktion genehmigt wurde.“
Gleichzeitig klingt in den Texten über das Reporter-Forum auch an, dass mancher wohl am liebsten zur Tagesordnung überginge. “Selbstkasteiung“ sei auch keine Lösung…
Oder sind die Fragen zu klein?
Ebenso gut kann man aber fragen, ob die Medienkritik weit genug geht. Georg Mascolo, der vergangene Woche in Frankfurt bei den Jubiläumsfeierlichkeiten von epd Medien (Altpapier) sprach, sieht jedenfalls den Medienjournalismus stärker in der Pflicht, größere Fragen zu stellen und ihnen nachzugehen. Seine Rede steht bei, wiederum, Übermedien:
“Wenn eine erfundene Krebs-Therapie drei Mal hintereinander den Nobelpreis gewinnen würde, wäre unsere Frage: Was sind die Ursachen?“ Im Fall Relotius, der mehrfach den Reporter-Preis gewonnen hat, vermisst er diese Frage demnach.
“Er“, also der Medienjournalismus, schreibt Mascolo, “interessiert sich für Personalien und weniger für das System, er jagt am Morgen Dingen hinterher, die er am Abend selber nicht mehr interessant findet. Er macht Kleines Groß und lässt Großes liegen. Manchmal ist der Medien-Journalismus dem atemlosen politischen Journalismus in Berlin nicht unähnlich. Er lebt in seiner eigenen, höchst reizbaren Welt und nutzt zur Kommunikation ausgerechnet auch noch das nervöseste Medium: Twitter. Bleibt da genügend Zeit und Aufmerksamkeit für die großen Fragen? Hat ein Medienjournalist den schmerzlichen Fall Claas Relotius aufgedeckt? Hat sich der Medienjournalismus bis heute ausreichend mit der Frage beschäftigt, was da schiefgegangen ist?“
Weitere Diskussionsbeiträge zum Thema? Der Vollständigkeit halber: gibt es. Bei Michael Jürgs wird es etwas flockiger, aber wenn’s der Wahrheitsfindung dient… Er hat, bevor er den Theodor-Wolff-Preis erhält, dem Spiegel (frei für Abonnenten) ein langes Interview gegeben und sagt:
“Nach der Relotius-Affäre haben viele Nichtskönner geglaubt, es sei vorbei mit gutem Schreiben und Reportage. Da würde ich erwidern: Ihr konntet es eh nie! Die Sprache ist für einen Journalisten eine faszinierende Geliebte. Sie müssen sie jeden Tag aufs Neue erobern. Nicht bloß einmal. Aber die Recherche muss halt stimmen. Gefährlich wird es, wenn Journalisten glauben, zuerst Künstler zu sein und dann Journalist. Ein guter Journalist hat die Nähe zum Künstler, bewundert denn, es sollte aber nicht ein jeder Journalist unbedingt einen Roman für die Ewigkeit schreiben wollen.“
Klarer Fall: Man kann auch allwissend zweifeln.
Der Musikindustrievergleich des Wochenendes
Worum sich der Medienjournalismus mittlerweile gekümmert hat: darum, KKR zu befragen, nachdem die Investoren mit dem Medienmanager Fred Kogel vier Medienunternehmen gekauft haben (Altpapierkorb vom Dienstag). In der Welt am Sonntag steht ein Interview mit Philipp Freise von KKR, der darin den “audiovisuellen Medienmarkt“, formerly known as Glotze, mit der Musikindustrie vergleicht.
“Die Musikindustrie hat sich zehn Jahre gequält und sich gefragt, ob es für sie ein Überleben in der digitalen Welt gibt. Der Markt hatte sich damals halbiert. Gleichzeitig nahm aber das Volumen des Konsums von Musik zu; es vervierfachte sich. So geht es gerade dem audiovisuellen Medienmarkt. Existenzielle Sorgen, aber gleichzeitig eine deutliche Zunahme des Inhaltekonsums. Ich bin davon überzeugt, dass es viele Gründe gibt, optimistisch zu sein.“
Wobei der neue, wohl noch immer namenlose Player eher “die wachsende Nachfrage von Fernsehsendern und Streamingplattformen nach Inhalten“ bedienen als zum Beispiel selbst streamen will:
“Früher gab es ARD und ZDF, dann die Privaten wie RTL und Sat.1. Jetzt gibt es eine viel größere Auswahl mit neuen Anbietern, unter denen Netflix und Amazon Prime aktuell zu den größten zählen. Bald startet Disney ein Streamingangebot. Unser Ziel ist es, die Nummer eins für Inhalte in Deutschland und später in Europa zu werden.“
Was Disney plant, inklusive Kampfpreisansage, wurde derweil auch gemeldet. “Der Konzern zieht seine Filme und Serien bei Konkurrenten wie Netflix ab und will sie nur auf der eigenen Plattform streamen“, heißt es etwa bei Horizont. Für Kunden, die auf nichts verzichten wollen, heißt das dann freilich: noch ein Abo…
Die Personalie des Wochenendes
“Gerald Braunberger, 59“. Ulrike Simon, die schon die Ablösung seines Vorgängers Holger Steltzner begleitet hat, schreibt bei Spiegel Online, er werde der neue für Wirtschaft und Sport zuständige FAZ-Herausgebers, sofern der Aufsichtsrat zustimme:
“Wieder fällt die Wahl nicht auf eine Frau, und wieder war bei der Suche digitale Kompetenz kein entscheidendes Kriterium. Stattdessen einigten sich die drei Herausgeber, Werner D'Inka, Jürgen Kaube und Berthold Kohler, auf einen in ihrer Altersklasse“.
Tja. Tja? Die SZ hat auch Braunberger zugetane FAZler gesprochen:
“Während in der Branche Kritik laut wurde, die Herausgeber hätten schlicht ihresgleichen gewählt, wird die Wahl in der Redaktion als vielversprechend wahrgenommen: Braunberger sei freundlich und kompetent berichten Mitarbeiter, jemand, der die für das Blatt so wichtige wirtschaftspolitische Ausrichtung erneuern könne, und angenehm im Umgang sei.“
Altpapierkorb (Deniz Yücel, Meinungsjournalismus, Game of Thrones…)
+++ Heute Abend um 22.45 Uhr läuft in der ARD, also im Programm, das die ARD Das Erste nennt, im Rahmen von “Die Story“ ein Film über Deniz Yücel. Die SZ und die taz merken beide an, dass Pinar Atalay die “wahre Geschichte“ finden wollte, aber nicht fündig wird, weil man die schon kennt. “Neu wirkt allenfalls, dass die Welt Yücels erste aus dem Polizeikeller geschmuggelte Aufzeichnungen nicht drucken wollte, aus der begründeten Sorge, er schade sich damit womöglich selbst. Aber Yücel beharrte, drohte damit, die Notizen auf einer türkischen Ausgabe des Kleinen Prinzen einem anderen Medium zu geben.“ (SZ) Die taz, bei der Yücel (“ein wunderbar sturer Bock“) gearbeitet hat, klingt positiver: “Ein schlechter Film ist diese Doku deswegen aber nicht. Sie fasst in einer Dreiviertelstunde den Fall exakt zusammen und könnte damit zum filmischen Standardwerk über die Staatsaffäre Yücel werden.“
+++ Nicht nur in Hamburg und Frankfurt wurde über Journalismus diskutiert, sondern auch in der Zeit: “Das zunehmende Bedürfnis vieler Journalisten, der Öffentlichkeit zu beweisen, wo sie politisch stehen, ist unübersehbar.“ So beginnt Jochen Bittners jüngster Essay, beruhend auf einem Buch, das er geschrieben hat. Er kritisiert “allzu klare öffentliche Positionierungen von Journalisten“. Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass das “Bedürfnis vieler Journalisten, der Öffentlichkeit zu beweisen, wo sie politisch stehen“, zunimmt. Es gab schon immer Journalisten, von denen man genau wusste, wo sie stehen, so wie man es von Bittner im Grunde auch weiß, nachdem man seinen Text gelesen hat. Er kritisiert nämlich konkret nur Journalisten, die für etwas eintreten, das gemeinhin als links gilt.
+++ Ist deutscher Journalismus “linksgrün und abgehoben“? Das Katapult-Magazin “für Kartografik und Sozialwissenschaft“ hat in seiner neuesten Ausgabe Daten und Studien zur Frage zusammengetragen, und es schreibt: “Die Mehrheit der deutschen Journalisten ist nicht konservativ, das belegen zahlreiche Umfragen“. Aber: “Die Medien seien links, heißt es deshalb oft. Stimmt das? Nein.“ Die Katapult-Grafik, die die politische Orientierung der größten Tageszeitungen Europas zeigt, scheint mir allerdings auch nicht ganz agenda-frei. Auf dieser Karte ist Deutschland ganz schwarz, also “konservativ“, weil die demnach konservative Bild-Zeitung die größte deutsche Tageszeitung ist. Es sieht also – nicht im Text, aber auf dieser Karte – so aus, als sei Deutschlands Zeitungslandschaft komplett konservativ. Was natürlich auch wieder nicht stimmt.
+++ “Game of Thrones“ geht in die letzte Staffel, und praktisch keine Medienredaktion hat den Starttermin übersehen. Etwas beliebig ausgewählt: Tagesspiegel, taz, FAZ+ (aus Belfast), Zeit Online…
Neues Altpapier gibt es am Dienstag.