Das Altpapier am 8. April 2019 Neues aus der PR-Fire-Schlange
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Der AfD-Abgeordnete, den das SZ-Magazin porträtierte, steht jetzt noch größer im Spiegel. Der Porträtist "wirkt mitgenommen", nicht allein vom Shitstorm. Die Ethik der Ethikräte könnte auch mal diskutiert werden. Außerdem: Einblicke in den Arbeitsalltag in Facebooks Essener Löschzentrum. Außerdem: Netflix-Bejubelung und -Verfluchung. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
"Unter absoluter Kontrolle"? (Neues von Frohnmaier)- Shitstorm, Gnocchi, Lehren (Neues von Thelen)
- Die Ethik der Ethikräte ...
- "PR-Fire"-Fälle und sonstige Queues im Facebook-Löschzentrum
- Altpapierkorb (Netflix-Bejubelung und -Verfluchung, AKK in Marl, was denn nun "Rundfunk" ist, 911-Euro-Digital-Abo, "Laberrhabarber", die ARD war schon mal weiter)
Kürzlich hat der freie Journalist Raphael Thelen den AfD-Bundestagsabgeordneten Markus Frohnmaier fürs SZ-Magazin porträtiert, weshalb vorige Woche beide ausgiebig im Altpapier "Mit Rechten Rum trinken" vorkamen. Nun sind sie übers Wochenende zusammengenommen beinahe dreifach in noch größere Öffentlichkeit geraten.
Um den unwichtigsten Text rasch abzuhaken: In der FAS fasste Jörg-Uwe Albig, Autor eines kürzlich erschienenen "Schlüsselromans", den die FAS kürzlich freundlich entschlüsselte, unter der (Print)-Unterzeile "Wie sich das 'SZ Magazin' von einem AfDler benutzen lässt" den Ärger für solche Gedrucktes-Leser, die noch nichts davon mitbekommen hatten, zusammen. Zu Albigs Kunstgriffen gehört, Thelens Namen gar nicht und Frohnmaiers bloß indirekt (als Zitat aus Thelens unglücklichem "Rum getrunken"-Tweet, den er allerdings dem SZ-Magazin zuschreibt) zu erwähnen. Falls Sie's lesen wollen: (€).
"Unter absoluter Kontrolle"? (Neues von Frohnmaier)
Frohnmaier selbst ist geradezu der Star der Titelstory "Putins Puppen" des aktuellen Spiegel. Zwar ist er nicht auf dem Cover zu sehen, aber Subjekt des ersten Satzes ("... steht an einem Donnerstag im April vergangenen Jahres in einem Fünfsternehotel auf der Krim und drückt gemeinsam mit fünf Männern einen großen roten Knopf"), noch vor der Online-Bezahlschranke.
Ein zehnköpfiges Spiegel-Autorenteam zwischen Melanie Amann und Anika Zeller hat gemeinsam mit Kollegen von ZDF, BBC und der italienischen Zeitung La Repubblica insgesamt fast 15.000 E-Mails, darunter tausende "aus der russischen Präsidialverwaltung", und 32.863 Bilder ausgewertet, die "das Dossier Center in London zur Verfügung gestellt hat". Dieses Zentrum "wird vom russischen Geschäftsmann und Kremlkritiker Michail Chodorkowski finanziert". Die härteste Nachricht fasste der Spiegel selbst frei online so zusammen. Im Kern geht's darum, dass ein Dokument ungewisser Provenienz Frohnmaier als einen "unter absoluter Kontrolle stehenden Abgeordneten im Bundestag" bezeichnet. Damit wird am Ende des langen Texts auch der AfD-Mann selbst konfrontiert. Er könne sich das alles nicht erklären und "lege Wert auf die Feststellung, 'dass er zu keinem Zeitpunkt unter der Kontrolle von jedweden Dritten stand'".
Vielleicht mag man sich wundern, dass staatlich russisch gelenkte Stellen ihnen derart wertvoll erscheinende Kontakte im Klartext verbrennen statt sie konspirativ zu schützen. Vielleicht auch nicht; wir sind ja keine geopolitisch-strategische Politkolumne. Die Spiegel-Titelstory-üblichen Nachdreher (Was hat Bundestags-Vizepräsident Thomas Oppermann von der SPD zur Bild am Sonntag gesagt?..) gibt's jedenfalls.
Shitstorm, Gnocchi, Lehren (Neues von Thelen)
Damit zum dritten Beitrag, eine Medien-Geschichte, in der nun ganz der Frohnmaier-Porträtist im Vordergrund steht. Nachdem Raphael Thelen letzte Woche "unter Beteiligung von Twitter-Größen wie Jan Böhmermann und Sophie Passmann beschimpft und verspottet" wurde, empfand Stefan Niggemeier Empathie und unternahm auf uebermedien.de eine Art Ehrenrettung des freien Journalisten mit, nach eigenen Angaben, "Schwerpunkt Migration, Ostdeutschland und Neue Rechte". Die Ehrenrettung hat die Form eines Interviews mit langen Autoren-Einschüben (à la "Der Artikel war schon vor dem Shitstorm ein Alptraum. Rund vier Monate habe er daran geschrieben, sagt Thelen, mit immer neuen Redigier-Schleifen mit dem 'SZ-Magazin' ... Er habe seine Ersparnisse aufgebraucht für diese Geschichte") sowie allerhand eingebundenen Tweets.
"Mitgenommen" wirkte Thelen nicht allein des Shitstorms, sondern der vorangegangenen Materialschlacht ("280.000 Zeichen Transkripte, 20 Stunden Bänder Material ...") wegen, die ein zehnköpfiges Spiegel-Team auch beschäftigt hätte. Der ominöse "Rum getrunken"-Tweet sei "eine unglückliche Verkürzung", die Thelen unter allerdings wunderlichen Annahmen ("ich dachte, das lesen meine Journalistenkollegen") postete. Der Rum selbst erkläre sich aus einer weitere Medien-Schleife (Thelen: "Frohnmaier hatte ein Doppelinterview für die Öffentlich-Rechtlichen geführt mit einem syrischen Rapper", und zwar, wie uebermedien.de-Link zeigt, dieses fürs Funk-Format "Informr"; was Thelen dazu berichtet, dürfte weitere Diskussionen anfeuern ...).
Im vorläufig nur kostenpflichtig zugänglichen Teil des Interviews geht es auch ausdrücklich um die von René im Altpapier exemplarisch zitierten "Gnocchi mit Salat", deren Erwähnung Thelen erneut wunderlich begründet ("Ich glaube, auf die Gnocchi mit Salat zu verweisen, ist eindrücklicher als zu schreiben: 'Er war geläutert und jetzt provoziert er wieder'"). Überzeugendere und grundsätzlichere Aussagen trifft er dort aber auch. Zum Beispiel:
"Wir können nicht anfangen zu sagen, AfDler sind qualitativ etwas anderes als andere Menschen, die haben ihr Recht auf einen demokratischen menschlichen Umgang verloren und deswegen fangen wir jetzt an, die unfair zu behandeln."
Lässt sich aus dieser Verwicklung was lernen? (Außer natürlich, dass bitte wirklich niemand mehr wähnt, Beiträge auf Twitter würden vor allem von denen gelesen, an die sie sich richten sollen, und darin funktioniere sogar Ironie zu schwierigen Themen.) Vielleicht noch, dass ab sofort Journalisten Infos wie die, was wer wann gegessen hat, nur noch dann vermelden, wenn es wirklich, wirklich wichtig ist und vermeintliche Eindrücklichkeit sich nicht bloß individuell assoziativ erschließt. Und vielleicht:
Die Ethik der Ethikräte ...
Ethik wird immer wichtiger! Ebenfalls zufällig zusammen treffen dazu News aus den speziellen Beratungsgremien führender Datenkraken.
Zum einen hat Google seinen Ethikrat zum Thema Künstliche Intelligenz "nach nur rund einer Woche wieder aufgelöst", wie faz.net und ausführlicher auf Englisch etwa theverge.com meldeten. Einer der Gründe sei eine Petition zum Ausschluss einer Rätin, die "sich unter anderem diskriminierend gegenüber Transgender und Migranten geäußert" haben soll.
In die auch bereits stattliche Landschaft deutscher Ethikräte mit Internetbezug schaute der Tagesspiegel (zunächst in Form seines "Entscheider-Briefings"). Ihm fiel auf, dass Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei seinem Berlin-Besuch vergangene Woche (Altpapier) doppelt so lange wie mit Justizministerin Barley mit Wissenschaftlern wie "Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, der Regierung und Bundestag in ethischen Fragen berät" sprach. Das heißt: Dabrock berät sowohl die deutsche Regierung als auch Zuckerbergs Moloch. Ist das ein Interessenkonflikt? Diese und andere Fragen stellt die ehemalige Medienredakteurin Sonja Alvarez, etwa noch: "Wie transparent muss eine regelmäßige Beratung zwischen Regierungsvertretern und einem Unternehmen wie Facebook sein?" Was interessant ist, weil der Tsp. Regierungs- und Behörden-Transparenz ja gerne und erfolgreich einklagt.
Aufschlussreich ist, was die Bundesorgane bereits jetzt dazu so sagten:
"Eine Sprecherin des Ministeriums für Verbraucherschutz, teilt mit, 'mangels Zuständigkeit' 'keine Bewertung vornehmen' zu können. Das Forschungsministerin, das federführend war beim Gesetz zur Einführung des Ethikrates, verweist auf die Geschäftsordnung des 'unabhängigen Sachverständigengremiums'. Auch ein Sprecher des Bundestags sagt, nicht für eine Bewertung möglicher Interessenskonflikte zuständig zu sein."
Die wichtigsten Fragen zwischen Digitalem und Klima so zu Querschnittsthemen zu gestalten, dass alle ein bisschen verantwortlich sind und, wenn sie Lust haben, sich profilieren können, aber so gut wie nie jemand richtig zuständig ist, ist das Mittel der Politik, das die aktuelle Groko am allerbesten beherrscht.
Nicht ohne den Frame mitzunehmen, den der Tagesspiegel zum Beurteilen des Facebook-Ethikrats anbietet ("Ethics Washing" bzw. "Ethik-Waschmaschinen", wird der Mainzer Theoretische-Philosophie-Professor Thomas Metzinger zitiert) ...
"PR-Fire"-Fälle und sonstige Queues im Facebook-Löschzentrum
... klicken wir weiter zu netzpolitik.org. Und bleiben zugleich bei Facebook, für das saubere Timelines der Milliarden Nutzer (so dass sich niemand und erst recht keine staatliche Stellen beschwert), natürlich wichtiger sind als bloß ethisch blütenweiße Westen. Dazu gibt es Saubermach-Zentren wie das der österreichischen CCC GmbH in Essen (dessen Ankündigung laut Facebook Armin Laschet einst übrigens als "Neuansiedlung eines Weltunternehmens" in NRW und "wesentlichen Beitrag zur Netzsicherheit und zur Kommunikationskultur im Internet" begrüßte; vgl. Altpapier 2017).
Darüber, wie dort gearbeitet und -löscht wird, hat ein vierköpfiges netzpolitik.org-Autorenteam nun den Beitrag "So funktionieren Facebooks Moderationszentren" verfasst. "Eine Person ..., die wir in unserer Geschichte geschlechtsneutral Mika nennen", berichtet anonym von den Abläufen. Grundsätzlich würden Prüffälle zunächst in "thematische Queues, die unterschiedliche Prioritäten haben", wie die "Hi Pri Queue" (für "Dinge wie Selbstverletzungen, Suizidankündigungen, Terrordrohungen, Kinderpornografie und ähnliches") oder die "Hate Queue" (zu deren Bearbeitung "die Mitarbeiter 24 Stunden Zeit" hätten) eingeordnet.
Dass in Essen "derzeit 13 nach Sprachen getrennte Märkte – von Albanisch bis Persisch" bearbeitet werden, ist nur eine der nun bestätigten handfesten Neuigkeiten. Fast liest sich das Stück wie eine gelungene Spiegel-Titelstory, bloß nicht so länglich. Es fängt schon ähnlich szenisch an:
"Auf dem Bildschirm erscheint ein neues Ticket. Mika schaut sich den Fall 20 Sekunden an und drückt auf Delete. Mika hat heute schon 240 solcher Tickets bearbeitet und gerade einmal die Hälfte seines Arbeitstages geschafft. Mika arbeitet im Löschzentrum von Facebook in Essen. Dort moderiert eine Firma namens Competence Call Center (CCC) gemeldete Inhalte für den Weltkonzern. Das nächste Ticket: der Post einer Person, die als Abgeordnete im Bundestag sitzt. Mika überlegt etwas länger. Mika sieht ein 'PR-Fire-Risk' und eskaliert den Fall zur Facebook-Zentrale in Dublin ..."
War's womöglich ein AfD-Abgeordneter? Das bleibt unklar, liegt aber nahe, schon weil als Beispiele für Facebbok bewusstes "PR-Fire-Risk" "Politiker:innen, Prominenten und Accounts großer Reichweite" von nämlich mehr als 100.000 Followern sowie namentlich Beatrix von Storch oder Alice Weidel genannt werden. "Entsteht so eine digitale Zwei-Klassen-Gesellschaft?", wenn prominente Provokanz anders behandelt wird weniger prominente? Das dürfte schon wieder eine Frage an die Ethikräte sein ...
Altpapierkorb (Netflix-Bejubelung und -Verfluchung, AKK in Marl, was denn nun "Rundfunk" ist, 911-Euro-Digital-Abo, "Laberrhabarber", die ARD war schon mal weiter)
+++ "'Unser Planet' ist eine der aufwendigsten Naturdokumentationen, die je produziert wurde", und wurde von der SZ, zu deren vorrangigen Kompetenzen die Netflix-Bejubelung zählt, u.v.a. anhand einer "bizarren Toiletten-Szene" mit einem Hochlandspitzhörnchen und einer fleischfressende Kannenpflanze empfohlen. +++ Hintergründigere Besprechung gibt's beim Standard (auch mit Blick auf Netflix' "gigantischen Marketingcoup"), bei faz.net (Oliver Jungen: "Die wohlfeile Kritik einer beschönigenden Idealisierung, die in den vergangenen Jahren auch an [Sir David] Attenboroughs Haltung, einer von der Natur stark entfremdeten Zivilisation als Köder zunächst einmal deren Schönheit zu zeigen, geübt wurde, greift hier nicht") und bei welt.de (Die "Bilder sind aber weiterhin so überwältigend schön wie ein Bildschirmschoner", "performativer Widerspruch ..."). +++ Ja, dem Standard rutschte sogar ein "Fuck Netflix" (aus dem Munde Helen Mirrens) durch.
+++ "'Bildungsfernsehen kann Spaß machen', lobte die Verbandspräsidentin und CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer", als sie in Marl die besondere Ehrung des Deutschen Volkshochschul-Verbands (dessen Präsidentin sie u.a. ist) an den Fernsehsender Arte übergab. Heißt's in der dpa-Meldung zur Grimme-Preis-Gala am Freitag. +++ Der Liveticker der marler-zeitung.de wirft Fragen auf ("20.25 Uhr/ Entrüstung über die WDR-Kritik: Und das nicht nur bei Tom Buhrow, sondern auch im Rest des Saals"), ohne sie zu beantworten. Schöne Momente (auch Tränen der Rührung Buhrows) würdigte die Medienkorrespondenz.
+++ Ist gestreamtes Live-Bewegtbild Rundfunk? Medienanstalten bemühen sich um die Beantwortung dieser Frage mit ja. Zum einen tut's die bayerische BLM im Fall von Rainer "Drachenlord" Winkler, wie die SZ (€) berichtet. Zum anderen will die Berlin-Brandenburger MABB gegen das am Freitag hier erwähnte Gerichtsurteil zugunsten von bild.de weiter vorgehen, "damit diese für die Medienwirtschaft wichtige Frage geklärt wird" (Tagesspiegel).
+++ Die Südwestdeutsche Medienholding schrumpft ihre lange vor allem gedruckten Medienbranchen-Fachzeitschriften Werben & Verkaufen und Kontakter ins vor allem bzw. ausschließlich Digitale und hält die Abopreise in erstaunlichen Höhen ("911 Euro pro Jahr"; dwdl.de).
+++ Sind Subventionen für Zeitungszusteller "die Rettung der Printmedien?" Nein, meint in fröhlich flottem taz-Sound ("Laberrhabarber") der Wirtschaft-Umwelt-Ressortleiter Kai Schöneberg.
+++ Auf die Details des türkischsprachigen Deutschen Welle-Kanals (auf Youtube!) geht die Medienkorrespondenz ein.
+++ Den epd medien-Leitartikel "Wie transparent sind die Öffentlich-Rechtlichen?", in dem Dominik Speck diese Frage u.a. mit "Fast möchte man sagen, die ARD war schon mal weiter" beantwortet, gibt's inzwischen online.
+++ Die Thesen, dass "das beste Live-Fernsehen der Öffentlich-Rechtlichen" ihre Nachrichtenmagazine sind und diese aufgewertet gehören, entwickele ich selbst in meiner aktuellen evangelisch.de-Medienkolumne.
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.