Das Altpapier am 14. Februar 2019 Ein Kompromiss ist keine Lösung
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Das freie Internet ist tot, es lebe der unabhängige Journalismus: Kleine Presseschau, nachdem gestern Abend ein Kompromiss für die Reform des EU-Urheberrechts gefunden wurde. Die Kontext Wochenzeitung darf einen AfD-Mitarbeiter wieder rechts und beim Namen nennen. Die taz gibt Nachhilfe in den Grundrechenarten. Apple will zu viel an Nachrichten verdienen. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Bevor gestern, am späten Abend, Vertreter von Europäischem Parlament, Kommission und Rat der Mitgliedsstaaten verkündeten, einen Kompromiss bei der Reform des Urheberrechts in der EU gefunden zu haben, hatte Sascha Lobo seinen Rand bei Spiegel Online schon online.
“GroKos aus Konservativen und Sozialdemokraten, die ihr in Deutschland und im Europaparlament das Sagen habt - ich habe mal eine Frage: Wollt ihr Europa zerstören? (…) Artikel 11 und 13 wollt ihr auf Lobbydruck von Presseverlegern und Urheberrechtskonzernen einführen. Sie werden wenig bis nichts bringen und zerstören im Gegenzug sehr viel. Nicht nur einen guten Teil der Netzkultur, sondern auch unser Vertrauen, dass ihr in anderen Bereichen der Politik ausgleichend und bevölkerungsorientiert arbeitet.
Alle paar Tage höre ich von euch, GroKos, wie wichtig die Digitalwirtschaft sei. Dass man ein europäisches Google brauche oder so. Artikel 11 und 13 lassen erkennen, dass es sich um bigottes Gelaber handelt. Große Digitalunternehmen in der EU kann man nicht herbeireden, man muss Gesetze dafür schaffen. Und ihr tut das exakte Gegenteil. Das ist die Definition von Bigotterie.“
Frust und Empörung gegenüber politischen Institutionen, die sich mehr nach den Interessen von bereits reichen Unternehmen statt der Menschen, die sie gewählt haben, zu richten scheinen: Das treibt nicht nur behütete Wutbürger, sondern auch Spiegel-Kolumnisten um.
Die Politiker taten dann dennoch, was sich bereits abzeichnete (s. Altpapier aus der vergangenen Woche), und entschieden sich für den Reformvorschlag samt Leistungsschutzrecht (Artikel 11) und Uploadfitern (Artikel 13). Bei Ersterem soll das Zitieren von Überschriften und ganzen Sätzen in Suchmaschinen verboten werden; einzelne Wörter und kurze Textausschnitte bleiben erlaubt. Bei Letzterem werden Unternehmen ausgenommen, die unter zehn Millionen Euro Jahresumsatz und fünf Millionen Nutzer im Monat haben sowie erst weniger als drei Jahre am Markt sind (Agenturmeldungen u.a. bei Spiegel Online und Zeit Online).
Zum weiteren Procedere informiert Samuel Jackisch bei tagsschau.de:
“Zwar sind zahlreiche Parlamentarier gegen die geplante Reform, aus unterschiedlichen Gründen: Sie formulieren wirtschaftspolitische Bedenken, positionieren sie generell gegen Regulierung von Märkten oder bezweifeln den tatsächlichen Nutzen der Reform für Urheber. Im konservativ dominierten Europaparlament bilden die Reformgegner jedoch eine Minderheit, ein komplettes Scheitern des Entwurfs in letzter Sekunde ist unwahrscheinlich. Stimmt das Parlament mehrheitlich zu, beginnt eine Übergangsphase von bis zu zwei Jahren, bevor die Reform endgültig in Kraft tritt.“
Der BDZV als einer der angesprochenen Lobbyverbände strickt daraus die Pressemitteilung, die ein erfolgreicher Lobbyverband an dieser Stelle stricken muss:
“Die Übereinkunft sieht auch die Einführung eines europaweiten Publisher’s Right vor, das den Verlagen erstmals die Chance bietet, mit den großen Tech-Plattformen über die Nutzung ihrer Inhalte zu einem fairen Preis zu verhandeln. Dieses Recht wird digitale Innovationen fördern und die Vielfalt professioneller digitaler Medienangebote deutlich erhöhen.“
Kleiner hatten sie es nicht. Dabei profitieren vor allem die Großen. Alexander Fanta, Netzpolitik.org:
“Die Maßnahme nutzt vor allem großen Verlagshäusern: Einer Berechnung zufolge würde bei Einführung des EU-Leistungsschutzrechts 64 Prozent der Einnahmen in Deutschland allein an den Axel-Springer-Verlag gehen. Google droht indes mit dem Ende von Google News in Europa.“
Fanta erwähnt aber auch, dass die Reform aus seiner Sicht durchaus Gutes mit sich brächte, nämlich eine klare Regelung dafür,
“dass durch originalgetreuen Vervielfältigungen gemeinfreier Werke keine neuen Rechte entstehen. Das erleichtert die Einbindung solcher Werke auf Wikipedia, schrieb die Wikimedia-Stiftung in einem Blogbeitrag. Zudem wird der Zugang zu vergriffenen Werken erleichtert, in dem Verwertungsgesellschaften für die Rechteinhaber handeln dürfen.“ (Link im Original)
Gar keine positiven Worte findet hingegen Simon Hurtz in seinem Kommentar für sueddeutsche.de, wo er in Bezug auf die Uploadfilter meint:
“Erstens haben nur wenige Unternehmen die nötigen finanziellen und technischen Ressourcen, solche Filtersysteme zu programmieren. (…) Zweitens sind Fehler garantiert. (…) Drittens greift Vorabfilterung in die Privatsphäre ein und verstößt gegen das Recht auf Meinungsfreiheit, wie der EuGH 2012 urteilte. (…)
Dieser Kompromiss hilft fast niemandem weiter, lasst uns von vorn anfangen. Diesen Mut sollte das EU-Parlament haben. Die Abgeordneten sind die einzigen, die eine misslungene Reform noch stoppen können.“
Eine Vision, die größer ist als die Sorge um wegbrechende Einnahmen von Axel Springer & Co. wünscht sich auch Sascha Lobo:
“Eigentlich bräuchte man genau jetzt eine große Vision, wie eine europäische, demokratisch geprägte Öffentlichkeit entstehen und refinanziert werden kann. Schon damit die Faschisten nicht gewinnen, die - wie wir in Ungarn gerade beobachten können - auf mediale Gleichschaltung hinarbeiten. (…) Und auch für die euch ach so wichtige Digitalwirtschaft, die europäische Kreativität zwischen Kultur, Publizistik und Start-Ups wäre eine Vision so essentiell. Aber von euch kommen Artikel 11 und Artikel 13.“
Sie hoffen auf große, europäische Ideen und bekommen die Ausweitung eines schon in Deutschland nicht funktionierenden Konzepts sowie eine undurchsichtige Zensurmaschinerie. Der Verband deutscher Zeitungsverleger nennt das in seiner Mitteilung “eine wichtige Voraussetzung für die Zukunft des freien und unabhängigen Journalismus in der digitalen Ära“.
*Entgeistertes Kopfschütteln und ab.*
Kontext Wochenzeitung gewinnt Rechtsstreit gegen AfD-Mitarbeiter
Eine wirkliche Lanze für die Pressefreiheit hat derweil gestern das Oberlandesgericht in Karlsruhe gebrochen. Es sprach der Kontext Wochenzeitung das Recht zu, den Namen des Mitarbeiters zweier Abgeordneter der AfD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag zu nennen, der sich in privaten Chats rassistisch geäußert haben soll. Dieser hatte widersprochen, dass die Nachrichten von ihm stammten und per einstweiliger Verfügung seinen Namen aus den Medien herausgeholt. Auch wir beim Altpapier sind ins Schleppnetz des juristischen Vorgehens gegen die Berichterstattung geraten.
Doch nun erklärte das Gericht (Quelle: Pressemitteilung), es sehe es
“als hinreichend glaubhaft gemacht an, dass die im Rechtsstreit vorgelegten Chat-Protokolle authentisch sind. Somit ist es für den Senat überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger sich in der zitierten Weise menschenverachtend, rassistisch und demokratiefeindlich geäußert hat“.
Auch die Tatsache, dass die Kontext-Redaktion über einen möglicherweise widerrechtlichen Leak an die Protokolle gekommen sei, sei kein Grund, diese nicht zu veröffentlichen, so das Gericht weiter:
“Der Kläger konnte nicht glaubhaft machen, dass der Beklagte den etwaigen Rechtsbruch selbst begangen oder in Auftrag gegeben hat. Deshalb überwiegt das von dem Beklagten verfolgte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und sein Recht auf Meinungs- und Medienfreiheit das Interesse des Klägers am Schutz seiner Vertraulichkeitssphäre. Denn mit Rücksicht auf die Diskussion um rechtsextreme Bestrebungen im Umfeld der AfD leisten die beanstandeten Presseartikel einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage. Aus diesem Grund darf in diesem Zusammenhang auch identifizierend über den Kläger berichtet werden.“
Amen.
“Wir freuen uns wie Bolle“ titelt entsprechen das Magazin selbst und nutzt den Erfolg auch direkt aus, indem es zusammenfasst:
“Kontext darf wieder schreiben, dass Marcel Grauf, ein Mitarbeiter der AfD-Landtagsabgeordneten Christina Baum und Heiner Merz, ein rechtsextremer Hetzer ist.“
Die beiden beanstandeten Artikel “,Sieg heil’ mit Smiley“ und “Gefährder im Landtag“ sind auch wieder online. Eine Zusammenfassung der Vorgeschichte hat Christian Rath in der taz.
Altpapierkorb (Apple News, Uli-Wilhelm-Interview, Lesezirkel, Netflix-Zahlen)
+++ Journalismus ist, wenn man einfach mal nachrechnet, etwa bei der Studie zu den vermeintlich doch gar nicht so gefährlichen Stickoxiden. Malte Kreutzfeldt hat das für die taz getan: “Während alle Medien breit über sein Papier berichteten und (Grenzwert-Kritiker und Wissenschaftler Dieter, Anm. AP) Köhler von einer Talkshow zur nächsten wanderte, sorgten seine Äußerungen in der Fachwelt nur für Kopfschütteln. (…) Wenn man sich aber trotzdem auf seine Vergleiche einlässt, zeigt sich, dass Köhler unabhängig von seinem mangelhaften Verständnis der Epidemiologie offenbar sehr viel grundlegende Probleme zu hat – mit der Chemie und vor allem der Mathematik.“
+++ Apple möchte über seine Nachrichten-App Medieninhalte nach dem Netflix-Abo-Modell vertreiben und nicht nur 50 Prozent der Einnahmen, sondern auch sämtliche Nutzerdaten behalten. Das meldete zuerst die Washington Post. Eine deutschsprachige Zusammenfassung samt Reaktionen hat David Hein bei Horizont.
+++ Sein Wissen über Suggestivfragen auffrischen kann heute jeder im Interview, das Reinhard Müller mit dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm für die Staat-und-Recht-Seite der FAZ geführt hat, z.B. mit Formulierungen wie “Sollte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht gerade in diesen Zeiten auf eine Grundversorgung beschränken?“ oder “Aber ist nicht mittlerweile eine mediale Vielfalt erreicht, welche die ursprüngliche Begründung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wegfallen lässt?“
+++ Journalistische Qualität lässt sich messen, und in der Schweiz wird das sogar praktiziert, schreibt Henry Steinhau bei Übermedien: “Die Analysen erfolgen anhand eines Kriterienkatalogs, der auf wissenschaftlichen Grundlagen und Definitionen zur Qualität von Informationsmedien basiert. Dazu gehören, wie viel eigene Leistung in der Berichterstattung zu erkennen ist, wie 'relevant’ sie für Diskurse und Meinungsbildung ist und wie gut sie Ereignisse und Geschehen einordnet.“
+++ Lesezirkel gibt es noch! Und sie sprechen sich untereinander so gut ab, dass nun das Bundeskartellamt einschreiten und acht von ihnen drei Millionen Euro Geldbuße aufbrummen musste, meldet Spiegel Online.
+++ Thomas Hitzlsperger ist beim VfB Stuttgart zum Sportvorstand aufgestiegen, und jetzt macht man sich bei der ARD doch mal Gedanken, ob er als solcher noch für den Einsatz als Experte taugt, schreibt Timo Niemeier bei DWDL (Hintergrund: Altpapier).
+++ Aus der leider nie enden wollenden Reihe “Um die Pressefreiheit steht es überall schlecht“ senden wir heute die Teile “In der Ukraine wurde kurz vor der Wahl mal eben der Rundfunkchef entlassen“ (“@mediasres“), “Auf den Philippinen haben sie eine kritische Journalistin wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung verhaftet“ (Netzpolitik.org) und “Aus China berichten wird für Auslandskorrespondenten immer schwieriger“ (tagesschau.de).
+++ An der deutschen Buzzfeed-Redaktion ist die Entlassungswelle bislang vorübergeschwappt. Einen Betriebsrat gründet sie nun vorsichtshalber - nach dem Vorbild der Kollegen in den USA und Kanada - dennoch, so Anne Fromm in der taz.
+++ Netflix veröffentlichte unlängst erstmals Zahlen, wie oft einzelne Angebote geschaut wurden, und Jürgen Schmieder erklärt auf der SZ-Medienseite den Grund dafür: “Netflix verdeutlicht mit dem Veröffentlichen einiger ausgewählter Erfolgszahlen seine popkulturelle Relevanz, so wie es über Preise bei der Emmy-Verleihung (23 in diesem Jahr) und nun auch Oscar-Nominierungen (alleine zehn für Roma, das nach dem Sieg bei den British Academy Film Awards zu den Favoriten für die Auszeichnung als bester Film gilt) seine Stellung als Produzent hochwertiger Inhalte untermauert.“
+++ Um die neuesten Funke-Pläne, darunter den geplanten Rückzug aus dem Gedruckten im Thüringen (Altpapier), geht es bei Stefan Locke auf der Medienseite der FAZ.
Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.