Das Altpapier am 23. Januar 2019 Medien sind keine Transportfirmen
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Warum stellen so viele Redaktionen Politiker*innen und Wirtschaftsbossen "Abspielfläche" zur Verfügung? Was will der YouTube-Kanal "Die Vulgäre Analyse"? Warum fehlt es an einer strukturellen Debatte über "Menschen hautnah" und ähnliche Sendungen? Ein Altpapier von René Martens.
Am Dienstag stand beim Aufmachertext auf der SZ-Medienseite ein Vorspann, der mich sehr neugierig gemacht hat. Es handelt sich um ein auch hier im Altpapier kurz erwähntes Porträt des neuen ORF-Moderators Martin Thür. Im Teaser oben drüber fand sich der von ihm ausgesprochene Satz "Wir müssen die Art und Weise, wie wir über Politik berichten, den Sehgewohnheiten des 21. Jahrhunderts anpassen", und das hat mich natürlich interessiert, denn: Was nicht gut läuft im Politikjournalismus und was besser laufen muss, ist unter unterschiedlichen Vorzeichen und aus unterschiedlichsten aktuellen Anlässen ja immer mal wieder Thema gewesen im Altpapier, im vergangenen Jahr zum Beispiel im Januar, Februar und November.
Allein: Was sich an der "Art und Weise, wie wir über Politik berichten", ändern sollte/müsste, steht in dem SZ-Text leider nicht drin. Umso erfreulicher, dass das Magazin journalist (für das ich regelmäßig schreibe) unter dem Titel "Wie machen wir den Journalismus besser?" gerade eine Serie veröffentlicht hat, in der Buzzfeed-News-Deutschland-Chefredakteur Daniel Drepper - einer von fünf Journalist*innen, die hier mitgewirkt hat - konkreter wird. Zur Arbeit seiner Redaktion schreibt er:
"Wir wollen nicht versuchen, auf Teufel komm raus Agenturmeldungen zu produzieren. Denn dann bräuchten wir die Nähe zur Politik, müssten angeblich exklusive Zitate einfangen und diese zu Meldungen aufblasen, die häufig keine sind und bei denen wir am Ende doch nur eine Abspielfläche für die Politikerin oder den Wirtschaftsboss wären."
Medien als "Abspielfläche für Politikerinnen und Wirtschaftsbosse" zur Verfügung zu stellen - das gehöre zu den "überflüssigsten Dingen, die Journalisten heute tun können", so Drepper weiter. Denn:
"Jede Firma, jeder Verein, jede Partei hat eigene Kanäle (…) Der reine Transport von Botschaften ist heute unwichtiger denn je."
Wobei mir der Tonfall hier fasst noch ein bisschen zu moderat ist. Problematisch ist ja nicht nur der Umgang mit "exklusiven" Zitaten, die ja heute sowieso nur für wenige Minuten "exklusiv" bleiben. Um mal einen Spezialfall der Botschafts-Transporttätigkeit aufzugreifen: Zu den fatalsten Auswüchsen des Verlautbarungsjournalismus gehört, dass etablierte Medien bei Twitter unkommentiert Politiker-Statements verbreiten. Das Mutterhaus des Altpapiers ist in dieser Hinsicht kürzlich besonders negativ aufgefallen: Der Account von "MDR Aktuell" verbreitete ein Gaga-Statement nicht nur uneingeordnet, sondern ließ zur Krönung auch noch die Anführungszeichen weg.
Kritisch zu Dreppers Text haben sich aus unterschiedlichen Gründen bei Twitter unter anderem die Deutschlandfunk-Mitarbeiter Udo Stiehl (für den Dreppers "Thesen den sanften Beigeschmack von Absolutismus haben") und Sandro Schroeder geäußert (siehe Thread).
In seinem Beitrag formuliert Drepper auch ein Lob für Correctiv, was nicht verwunderlich ist, weil er für das Recherchenetzwerk einst tätig war. Correctiv selbst berichtet aktuell in eigener Sache darüber, dass die Recherchen zu Black Sites Turkey (siehe Altpapier) Thema im "monitoring comitee" des Europarats waren. Beziehungsweise: Man berichtet darüber, dass man nicht so richtig berichten darf. Konkret:
"Das Komitee lud Correctiv ein, die Ergebnisse in Straßburg vorzustellen. Es war das erste Mal, dass ein Austausch mit einem Vertreter der türkischen Regierungspartei AKP über die Recherche möglich war. Die Sitzung fand jedoch 'in camera’ statt. Das bedeutet, dass über den Austausch nicht berichtet werden darf."
Zur Radikalisierung des Hackers Johannes S.
Wenn man bedenkt, dass Anfang des Jahres das Doxing von Politiker*innen und Journalist*innen Aufmacherthema in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" war, dann erfährt dieses Thema derzeit nicht ganz die Aufmerksamkeit, die es eigentlich bräuchte. Lobenswert ist es insofern, dass Der Spiegel (€) aktuell auf "die Hetzer hinter dem Hacker" eingeht, also die Einflüsterer des rechtsextremen Täters Johannes S. Teil des Milieus, in dem dieser sich bewegte, war ein YouTube-Kanal namens "Die Vulgäre Analyse" (DVA). Dieser habe
"mit ihren Videos in den vergangenen Jahren 'viele junge Leute politisiert und teilweise wohl auch radikalisiert', sagt die Extremismusforscherin Julia Ebner vom Institute for Strategic Dialogue in London. Bei den Fans des Kanals gebe es eine hohe Überschneidung mit anderen rechtsextremen Netzbewegungen (…)"
Neben Ebner bezieht sich das Spiegel-Autorensextett auch auf einen Experten, der unter dem Namen Maze "rechtsextreme, autoritäre und neonazistische Strukturen auf Youtube" analysiert. Maze sagt,
"den Vertretern der 'Neuen Rechten' im Netz sei gemeinsam, dass sie ihre 'Gegner entmenschlichten'. Johannes S., der die Daten der Politiker veröffentlicht hat, ist in seinen Augen ein 'typischer Konsument' dieser Hetzer: 'Jung, männlich, weiß, mit einem Hang zu autoritären Strukturen'. Der Betreiber von 'Die Vulgäre Analyse' hingegen sei ein Täter, weil er hetze. Zugleich sei er ein 'nützlicher Idiot' für politische Akteure wie die der 'Identitären Bewegung', die das Netz zur Rekrutierung und für ihren politischen Kampf nutzten. 'Diesen großen Rahmen versteht er offenbar überhaupt nicht'".
In einer kostenfreien Zusammenfassung des Textes findet sich ein Hinweis auf die Badische Zeitung, die sich Ende der vorvergangenen Woche ebenfalls mit DVA beschäftigte. Weiterhin empfehlenswert in diesem Kontext: ein Beitrag des funk-Kanals Jäger & Sammler und ein Überblicksartikel der Belltower News.
Schaurig, schaurig
In der vergangenen Woche hielt ich es an dieser Stelle für angebracht zu konstatieren, "dass einige deutsche Journalisten nicht (mehr) bereit sind, 'Nazis raus' als zivilgesellschaftlichen Minimalkonsens zu akzeptieren". Aber dass im diesbezüglichen "Über-/Unterbietungswettbewerb" (Patrick Gensing) Reinhard Müller auf Seite 1 der FAZ diesen Beitrag abliefern würde, hätte ich mir nicht vorstellen können. Müller schreibt:
"Die inflationäre Verwendung der Nazis-raus-Parole, das Etikettieren des politischen Gegners mit dem schlimmstmöglichen Begriff hat weder etwas mit Vergangenheitsbewältigung zu tun noch mit einem Kampf gegen Extremismus. Im Gegenteil: Die Rassismuskeule gegen Konservative – das ist verhetzender Extremismus. Eine weitere schaurige Wendung und Verirrung der deutschen Geschichte."
Ey, Digger, wie soll ich das denn jetzt bitte toppen? So vielleicht: Zu den schaurigen Wendungen und Verirrungen der Geschichte des deutschen Journalismus gehört die Entscheidung der FAZ, Reinhard Müller als Redakteur einzustellen. Okay, okay, ist nur mittelprächtig. Eine Frage, die man auch stellen kann: Liest Müller eigentlich Übermedien? Nö.
Wo bleibt die strukturelle Debatte?
Wenn man sich das Interview anhört, das Ellen Ehni, die Chefredakteurin des WDR Fernsehens, dem DLF-Magazin "@mediasres" am Montag zu den aufgedeckten Verfehlungen bei "Menschen hautnah" (siehe ausführlich Altpapier von Freitag) gegeben hat, fällt auf (wie auch bei den anderen zumindest von mir wahrgenommenen Beiträgen): Die systemisch-strukturelle Komponente fehlt, anders als beim Fall Relotius, in dieser Debatte bisher.
Wenn es stimmt, was zum Beispiel die FAZ gestern schrieb (siehe Altpapier), dass nämlich die mittlerweile geschasste Autorin bei der tendenziell vermaledeiten Plattform komparse.de erst "nach vergeblicher Recherche" annonciert hat, dann sollte man auch mal darüber nachdenken, was der WDR von den Autor*innen eigentlich fordert. Man sollte die Strickmuster in Frage stellen, die sich die Redakteur*innen von den Autor*innen wünschen, ebenso die Kriterien für die Zielgruppen- bzw. Sendeplatz-Kompatibilität der Protagonisten.
Gewiss, das betont Ehni, gefälscht hat bei "Menschen hautnah" niemand, es geht um Unsauberkeiten geringfügigerer Art. Erfindungen wie die, für die Claas Relotius bekannt geworden ist, sind im Fernsehen teilweise aber sowieso nicht möglich. Es geht mir auch gar nicht darum zu insinuieren, dass dort Verfehlungen wie die jetzt enthüllten an der Tagesordnung sind. Vielmehr muss man diskutieren, inwieweit sich das Konzept der in der Regel streng formatierten Gesellschafts- und Alltagsreportagen und Schicksalsgeschichten, wie wir sie aus "Menschen hautnah" und von verwandten Formaten wie "37 Grad" vom ZDF (hier eine auch generelle Probleme benennende FR-Rezension der aktuellen Folge) und "Echtes Leben" (vormals "Gott und die Welt", ARD) kennen, totgelaufen hat. Und kommt mir jetzt nicht mit Quoten, Kinners! Mehr Platz für freiere Autorenstücke, für Analysen, die über das Abfilmen von Einzelfällen hinausgehen - das wäre jedenfalls wünschenswert.
Altpapierkorb (Diesel-Doku, Google News, Filme zum Holocaust-Gedenktag, Bert-Donnepp-Preis, Glitter, Nazli Ilicak, Mohamed Ben Khalifa)
+++ Eine etwas breitere Diskussion hätte wohl die vom NDR für die Reihe "Exclusiv im Ersten" zugelieferte Dokumentation "Das Diesel-Desaster" verdient. Dominik Wurnig vom RBB hat sie bereits vor rund zwei Wochen angestoßen. Er habe zum Dieselskandal in den vergangenen "mehr als 3 Jahren (…) fast alle Artikel & Beiträge in namhaften Medien (…) gelesen/gesehen. Vieles davon ist schlecht recherchiert und/oder einseitig, aber diese Doku ist ein besonders krasses Beispiel." Am Wochenende wurde das Diesel-Fanstück auch auf der Satireseite der taz erwähnt. Thomas Berbner, einer der beiden Filmemacher, war im vergangenen Jahr als Co-Autor eines exzeptionellen Minneliedes für die Hamburger Polizei aufgefallen.
+++ Angesichts der nicht neuen Drohung Googles, Google News in Europa abzuschalten, geht das Nieman Lab unter anderem darauf ein, was diese Maßnahme in Spanien (wo sie bereits umgesetzt ist) für Folgen hatte.
+++ Volker Nünning, Medienpolitik-Kenner und Medienkorrespondenz-Redakteur, wird in diesem Jahr mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet. Die MK berichtet in auch eigener Sache, Nünning teilt sich den mit 5.000 Euro dotierten Hauptpreis mit Philipp Walulis. Die "Besondere Ehrung" im Rahmen des Donnepp-Preises geht an Leonhard Dobusch, Mitglied im ZDF-Fernsehrat - und zwar für "sein Engagement für Transparenz im öffentlich-rechtlichen Gremiendickicht". Dobusch äußert sich ebenfalls in eigener Sache.
+++ Eine Reihe von "ausgewählten Filmen und Dokumentationen dem 74. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau" startet bei 3sat heute mit der Dokumentation "Todeszug in die Freiheit", die für klassisches Geschichtsfernsehen im besten Sinne steht und gerade für den Grimme-Preis nominiert wurde (Disclosure: Ich war Mitglied der zuständigen Nominierungskommission). Es geht um eine "singuläre Hilfsaktion" tschechischer Bürger für KZ-Häftlinge, die es "in dieser Form im Deutschen Reich nicht gegeben hat – auch nicht kurz vor Kriegsende", wie der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in diesem Film sagt. Erstausgestrahlt wurde die Dokumentation übrigens um kurz vor Mitternacht, jetzt läuft sie um 20.15 Uhr.
+++ Die taz stellt das Literaturmagazin Glitter vor, das mit dem brachial-ironischen Untertitel "Die Gala der Literaturzeitschriften" aufwartet und "von Berlin und Zürich aus (das) Wagnis stemmt, queere Literaturen aus der Tarnkappe zu zerren".
+++ Fünf Jahre und zehn Monate Haft - so lautet ein Urteil für die türkische Journalistin Nazli Ilicak (dpa/ND). Sie "war bereits im Februar 2018 in einem anderen Verfahren wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und versuchten Umsturzes zu lebenslanger Haft verurteilt worden." Siehe dazu seinerzeit unter anderem Die Welt.
+++ Am Sonntag verstarb der AP-Fotograf Mohamed Ben Khalifa, "(He) was killed by shrapnel from a rocket while covering ongoing clashes between rival militias in the south of Tripoli on Sunday", schreibt Middle East Eye - und fasst zusammen, was Kollegen zum Tod des 35-Jährigen sagen.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.