Das Altpapier am 18. Dezember 2018 Tanz den Journalismus!
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War der über soziale Medien ausgeübte russische Einfluss auf die US-Präsidentschaftswahl noch größer als gedacht? Sollten Redaktionen 2019 mit verschiedenen künstlerischen Formen experimentieren? Ein Altpapier von René Martens.
Da ja vielerorts Rückblickstimmung schon seit einer Weile herrscht, liegt es nicht fern, an dieser Stelle noch einmal auf eine öffentlich-rechtliche Großanstrengung im Bereich Information und Bildung zurückzublicken: die dokudramatische Serie "Krieg der Träume", die das öffentliche Bild der Zwischenkriegszeit in Deutschland zumindest ein bisschen erweitert haben dürfte und die im September ausführlich in diesem Altpapier Thema war.
Manfred Riepe erwähnt "Krieg der Träume, "eines der aufwändigsten europäischen TV-Projekte der letzten Jahre" (Tilmann Gangloff/tittelbach.tv anlässlich der Ausstrahlung), aktuell in einem 26.000 Zeichen umfassenden Beitrag für die Medienkorrespondenz - und zwar mit Blick auf die Qualität der Spielszenen. Riepe rekapituliert in seinem Text die ca. 25-jährige Geschichte des Stilmittels Reenactment und geht dabei unter anderem auf sehr instruktive Weise ein auf die politische Agenda Guido Knopps, einen, wertfrei gesagt, Pionier in diesem Bereich.
In "Krieg der Träume" ist die Qualität der inszenierten Szenen nun recht hoch, das klingt auch in Riepes kritischer Auseinandersetzung an:
"Trotz ihres hohen produktionstechnischen Aufwands führen die Spielszenen in 'Krieg der Träume' eines vor Augen: Obwohl die Nachinszenierung hier vergleichsweise sorgfältig erfolgt ist, so dass von Reenactment scheinbar schon fast nicht mehr die Rede sein kann, ist doch eines klar – die fiktiven Szenen stehen nicht für sich allein. Sie sind nicht nach den ästhetischen Gesetzen eines eigenständigen Spiel- oder Fernsehfilms inszeniert."
Um seine Kritik an den Spielszenen zu verdeutlichen, zieht er als Vergleichsgröße die Arbeit Heinrich Breloers heran, insbesondere den Dreiteiler "Speer und Er":
"Im Vergleich zu 'Krieg der Träume' wird deutlich, dass Breloer gespielte Szenen nicht als bloß illustrierendes Beiwerk, als Reenactment, sondern als eigenständigen filmischen Ausdruck konzipiert."
Der Begriff "bloß illustrierendes Beiwerk" ist in diesem Kontext aber irreführend, denn "Krieg der Träume" besteht zum allergrößten Teil aus gespielten Szenen, was angesichts des Ansatzes der Macher - "Das Leben der Menschen wird gezeigt, während es passiert" (Holger Gertz/SZ), und zwar so, wie sie es selbst beschrieben haben - auch gar nicht anders möglich ist. Vielmehr sind in "Krieg der Träume" die dokumentarischen Bilder das "illustrierende Beiwerk".
Mit der Einschätzung, dass "Krieg der Träume" "nicht im poetischen Sinn (erzählt)", hat Riepe wiederum Recht. Es werde "lediglich nacherzählt. Charaktere entfalten sich dabei nicht als Figuren, sie bekommen kaum psychologische Tiefe", schreibt er. Ja, gegenüber herkömmlicheren fiktionalen Szenen ist das sicherlich ein Nachteil, andererseits würde man den Boden des Geschichtsfernsehens dann vielleicht doch zu weit verlassen, wenn man "im poetischen Sinn" erzählen würde. Das wäre dann fiktionales Fernsehen (wie Breloer) - und "Krieg der Träume" ist trotz der dominierenden fiktionalen Szenen kein fiktionales Fernsehen.
Riepes Fazit:
"'Krieg der Träume' (ist) wie die meisten Doku-Dramen doch näher an Guido Knopps 'szenischem Zitat' als an einer authentischen Geschichtsaufbereitung. Die dokumentarische Dramaserie bringt die Fuge zwischen realen Filmbildern vom Ersten Weltkrieg und aufwendigen computergenerierten Szenen beinahe zum Verschwinden. In 'Speer und Er' legt Heinrich Breloer dagegen die Bruchlinien zwischen dokumentarischen und inszenierten Szenen offen, um sie als ästhetisches Ausdrucksmittel nutzbar zu machen."
Mir scheint es eher so zu sein, dass "Krieg der Träume" für ein eigenes Subgenre im Bereich der dokufiktionalen Mischformen steht. Das ist das Reizvolle an diesem Projekt, auch wenn es ganz gewiss nicht meine favorisierte Form des Geschichtsfernsehens ist.
Was 2019 passieren muss
Aus der Geschichte nun erst einmal in die nahe Zukunft: Das Nieman Lab veröffentlicht seit einigen Tagen "Predictions for journalism 2019". Der Duktus der Texte ist mitunter etwas medienkongresshaft und alles anders als feuilletonistisch oder süffig, aber zumindest zwei Kerngedanken scheinen mir aus der Vielzahl der Texte hervorhebenswert.
Hossein Derakhshan etwa schreibt in seinem Beitrag:
"The core crisis of journalism is not about business models, quality, ethics, or trust. It is that news, the heart of journalism, is dying. It is losing its cultural relevance after almost two centuries."
Das ist jetzt keine überraschende Feststellung. Was Derakhshan daraus folgt, aber möglicherweise schon:
"The challenge for journalism in the years to come is to reinvent itself around something other than news (…) I personally think that post-news journalism will revolve around drama. This means we should make various experiments inspired by older artistic forms such as literature, theatre, cinema, photography and even music and dance."
Dass Correctiv und Co. ihre CumEx Files (Altpapier, Altpapier) auch in einer Theaterfassung haben umsetzen lassen (die ersten Termine für 2019 siehe hier), war also möglicherweise eine zukunftsweisende Maßnahme. Das Genre der getanzten Reportage ist hier zu Lande ja auch bereits erfunden worden.
Um den im Altpapier immer mal wieder aufgegriffenen Themenkomplex Lokaljournalismus und Staatsknete (hier am Beispiel Schweden) geht es in dem Nieman-Lab-Beitrag von Craig Aaron und Mike Rispoli:
"Public funding for journalism?!?! The shock! The horror!",
lautet der knackige Einstieg.
"Got that knee-jerk reaction out of your system? Great. Because 2019 will be the year that more governments start funding local news — and that’s a good thing."
Andere Länder, bessere Sitten? So sehen’s jedenfalls Aaron/Rispoli:
"The rest of the world is already moving ahead of us in looking at ways to support local media. Canada just devoted nearly $600 million to boost the country’s journalism. Great Britain is redirecting $10 million from the BBC’s budget to local news outlets. Australia is considering taxing platform giants to support quality news. These are the kinds of ideas we need to start debating here. Government funding isn’t the only answer, but neither is philanthropy or blockchain or Jeff Bezos."
Informationskriegs-Schauplatz Instagram
Das Stichwort Jeff Bezos führt uns aus 2019 zurück ins noch laufende Jahr: Bezos’ Zeitung, die Washington Post, ist an den Entwurf eines Senatsberichts gelangt, aus dem hervorgeht, dass der Einfluss der russischen Trollfabrik IRA (siehe Altpapier) auf die US-Präsidentschaftswahl 2016 "wohl noch größer" (siehe etwa tagesschau.de) war als bisher gedacht. Basis des Berichts sind zwei Studien: Die eine wurde gemeinsam erstellt vom Forschungsprojekt für computergestützte Propaganda an der Universität Oxford und der Netzwerkanalysefirma Graphika, die andere stammt von der Cybersecurityfirma New Knowledge. Die erstgenannte Studie, so die Washington Post,
"provides the most sweeping analysis yet of Russia’s disinformation campaign around the 2016 election found the operation used every major social media platform to deliver words, images and videos tailored to voters’ interests to help elect President Trump — and worked even harder to support him while in office".
In der Oxforder Studie wird unter anderem die Bedeutung Instagrams herausgestellt:
"Over 30 million users, between 2015 and 2017, shared the IRA’s Facebook and Instagram posts with their friends and family, liking, reacting to, and commenting on them along the way."
In den "key takeaways", die die Nachrichtenagentur AP zur Sache formuliert hat (und die die Washington Post, zusätzlich zur eigenen Exklusivstory, ebenfalls veröffentlicht hat), heißt es dazu:
"Both reports show that misinformation on Facebook’s Instagram may have had broader reach than the interference on Facebook itself."
Eine weitere signifikante Passage aus den "takeaways" von AP lautet:
"The New Knowledge report says the Russian troll operation worked in many ways like a conventional corporate branding campaign, using a variety of different technology services to deliver the same messages to different groups of people."
Angesichts des Stichworts "conventional corporate branding campaign", ist es möglicherweise auch hilfreich, den Begriff "strategische Kommunikation" ins Spiel zu bringen, der in einem zumindest verwandten Zusammenhang - RT, vormals Russia Today - Verwendung findet in einem Beitrag, den Judith Felten, Mitarbeiterin an der Professur für Angewandte Linguistik an der TU Dresden, für das in diesem Sommer erschienene Buch "Sprachliche Gewalt. Formen und Effekte von Pejorisierung, verbaler Aggression und Hassrede" geschrieben hat.
Martin Ganslmeier, Korrespondent des ARD-Hörfunks in Washington, geht in dem bereits erwähnten tagesschau.de-Text ebenfalls auf die zielgruppenspezifische Ansprache ein:
"Die russischen Akteure richteten ihre Botschaften gezielt an bestimmte Interessengruppen in den USA. Konservative Amerikaner sollten mit den Themen Waffengesetze und Migration zur Wahl Trumps motiviert werden. Dagegen erhielten Afroamerikaner Botschaften, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Stimmabgabe verbreiten sollten. Die Trollfabrik in Sankt Petersburg betrieb sowohl Internet-Seiten, die sich für eine Vorherrschaft der Weißen in den USA stark machten als auch solche, die Afroamerikaner zum gewaltsamen Protest aufriefen."
Auch hier lassen sich also Parallelen erkennen zur Strategie der russischen Auslandsmedien (vgl. etwa t-online und "Tagesschau"-Faktenfinder). Weitere deutschsprachige Überblicke zu den von der Washington Post präsentierten Forschungsergebnissen gibt’s unter anderem bei Spiegel Online und Zeit Online.
Altpapierkorb (Die Rechenkunst der Bild-Zeitung, Sparen beim Standard, "Tatortreiniger", Altpapier-Jahresrückblicke)
+++ Aus einem Interview die Zahl jener Flüchtlinge herauszupicken, "die vor allem seit 2015 nach Deutschland gekommen sind" und heute "einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben" (361.000 Personen im September 2018 bzw. "bald 400.000" laut dem Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände), und dem dann die Hartz IV beziehenden Geflüchteten gegenüberzustellen, dabei aber Kinder und Greise miteinzurechnen, wie es die Bild-Zeitung gerade getan hat - das ist laut Bildblog "mindestens irreführend". Irreführung wiederum gehört ja zum Kerngeschäftsbereich der Bild-Zeitung.
+++ Der Tagesspiegel bespricht die Studie "Network Propaganda, Manipulation, Disinformation, and Radicalization in America" von Yochai Benkler, Robert Faris und Hal Roberts, die in nicht-gedruckter Form kostenlos zu haben ist.
+++ Der Standard hat zwar im Mai seine Chefredaktion von zwei auf vier Leute aufgestockt, muss nun aber "ein schmerzhaftes Sparpaket schnüren". Zum Beispiel sollen "bis zu sechs Stellen im redaktionellen Bereich gestrichen werden". Das berichtet Oliver Das Gupta für die SZ.
+++ Auch Matthias Hannemann (FAZ) ist angesichts des bevorstehenden Endes der NDR-Serie "Der Tatortreiniger" (siehe Altpapier) von Melancholie ergriffen. In seiner Besprechung der letzten vier Folgen (heute und morgen zu sehen) schreibt er aber auch: "Diese Entscheidung, die nicht der Sender traf, sondern die Autorin Ingrid Lausund alias Mizzi Meyer, flößt einem Respekt ein. Sie bewahrt den 'Tatortreiniger' davor, irgendwann doch mit einer ersten enttäuschenden Folge in Verbindung gebracht zu werden."
+++ Um das ganz oben erwähnte Wörtchen Rückblickstimmung noch einmal aufzugreifen: Gemeinsam mit Stefan Niggemeier diskutieren diverse Buzzfeed-Deutschland-Redakteur*innen in einem Podcast über ihre eigene diesjährige Berichterstattung in ihren jeweiligen Spezialgebieten.
+++ In Sachen Rückblicke gibt’s auch noch Altpapier-Spezifisches zu vermelden: Während der Feiertage und zwischen den Jahren erscheinen, wie gehabt, keine regulären Altpapiere - dafür aber zwischen dem 22. und 30. Dezember fünf monothematische Jahresrückblicke unserer Kolumnist*innen.
Neues (reguläres) Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.